Vorwort

Im Jahre 1992 wurde ich von Urs Pohlmann eingeladen, an der "Kulturkarawane" teilzunehmen. Mit einem Sonderzug der Transsibirischen Eisenbahn fuhren damals über 300 Kulturschaffende aus mehr als 20 Nationen durch Sibirien bis in die Mongolei. Ziel war es, sich ein Bild von der Situation der Menschen beider Länder zu machen und Kontakte zu russischen und mongolischen Kolleginnen und Kollegen zu knüpfen.

In Irkutsk lernte ich den dort lebenden Künstler Igor Shirshkov kennen und hatte in den folgenden Jahren zweimal die Gelegenheit, ihn nach Deutschland einzuladen. Bei seinem letzten Aufenthalt 1994 berichtete er von einer Besonderheit seiner Heimat, der Insel Olkhon im Baikalsee. Dort existierten Bauwerke neolithischen Ursprungs, Steinmauern, deren Funktion und Bedeutung im Dunkel der Geschichte lägen. Doch ihre Präsenz in der Landschaft sei derart augenfällig, daß sich ein Besuch und eine kritisch- methodische Untersuchung dieser Überreste frühgeschichtlicher Kultur unbedingt lohne. Im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung der frühen Kulturen des Fernen Ostens sind manche Fragen bis heute offen. Doch gerade die neueren russischen archäologischen und ethnologischen Forschungen liefern uns umfassendes Material, das zu einer vollkommenen Neueinschätzung der Entwicklung der menschlichen Kultur führen muß. Der Titel des Buches "Der Mensch kam aus Sibirien" des russischen Archäologen Alexej Pawlowitsch Okladnikow (1) ist nicht zu hoch gegriffen. Seine zunächst verwegen anmutende Behauptung wird durch die Khuza-Forschung nicht nur unterstützt, sondern sogar erweitert. Denn unsere neuesten Forschungsergebnisse belegen: die Khuza- Kultur war für ihre Zeit einzigartig und übte eine katalytische Wirkung auf die gesamte Kulturevolution aus - auch in Europa.

Sibirien ist nicht nur eine geographisch und geologisch reiche Landschaft. Es ist auch als Brückengebiet für die Neue Welt und deren Besiedlung von herausragender Bedeutung. Der Permafrost, der ewig gefrorene oder nur für sehr kurze Zeit oberflächlich tauende Boden, bildete die Voraussetzung für die Ausbildung von Gesellschafts- und Siedlungsformen, mit deren Hilfe sich die Menschen diesen widrigen Bedingungen in besonderer Weise anpaßten und die sich zum Teil bis heute erhalten haben. Aus ihnen und aus den im ewigen Eis konservierten Funden ergeben sich wertvolle Rückschlüsse auf die Gewohnheiten und Lebenswelten einer Vielzahl vor- und frühgeschichtlicher Kulturen. Lange Jahre war die Vor- und Frühgeschichte Sibiriens, die sich auf eine 300jährige Forschung berufen kann, vom Chinazentrismus bestimmt. Die kulturellen Errungenschaften der in chinesischen Randgebieten lebenden Völker wurden fälschlich nur als Ergebnis des chinesischen Einflusses gedeutet. Erst seit der Entdeckung Khara Khotos (2) durch Peter Koslow 1908 wurde das Bild von den primitiven mongolisch-tungiden Nomadenvölkern nach und nach korrigiert. Die vorliegende Forschungsarbeit trägt mit zur Revision des einst so einseitigen Bildes bei.

Das Volk der Khuza hatte nicht nur ein einzigartiges Weltbild, auch seine rituellen, gesellschaftlichen und technischen Entwürfe und Entwicklungen waren bereits hochgradig ausdifferenziert. Ihr Einfluß auf unsere zeitgenössischen Kulturen kann nicht hoch genug bewertet werden. Die Khuza-Kultur gibt uns entscheidende Anhaltspunkte zur Beantwortung jener drängenden Fragen, wer wir sind und woher wir kommen. Unsere Forschungsarbeit auf Olkhon umfaßte im Wesentlichen zwei Gebiete: die Buchten Sebete und Elga. Mit Hilfe der suggestofiktiven Methode stießen wir selbst in dem nur 10 Tage dauernden Aufenthalt auf derart umfangreiches Material, daß wir nun in der Lage sind, ein vergleichsweise lebendiges Bild der Khuza-Kultur zu zeichnen. Dabei muß betont werden, daß aus Rücksicht auf spätere systematischere Recherchen keine Grabungen stattfanden. Die Erde Olkhons birgt somit noch manches Geheimnis, das zu lüften zukünftigen Expeditionen vorbehalten bleibt.

Anmerkungen
1 Alexej Pawlowitsch Okladnikow "Der Mensch kam aus Sibirien,
  Russische Archäologen auf den Spuren fernöstlicher Frühkulturen", Verlag Molden 1974.

2 Michail Pjotrowskij (Hrsg.) "Die schwarze Stadt an der Seidenstraße",
  Staatliche Eremitage St. Petersburg und Fondatione Thyssen-Bornemiza, Verlag Electa Mailand 1993.

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