Einleitung

Sibirien, tatarisch "Schlafendes Land", ist ein Land voller geologischer und anthropologischer Überraschungen. Seine Klimazonen reichen vom Polarkreis bis in die Subtropen und beherbergen so unterschiedliche Tierarten wie Eisbären und Kamele. Die Sommer sind wärmer als unter gleicher Breite in Europa, die Wintertemperaturen erreichen in den kältesten Teilen des Nordostens ein Januarmittel von minus 50°C. Der baumlosen Tundra im Norden folgt topographisch ein mittlerer, breiter Waldgürtel, der vom Ural bis zum Ochotskischen Meer reicht. Im Süden geht er in urbares Land über, dem sich im Südosten die mongolischen Steppen und Halbwüsten anschließen. Die drei größten Flüsse Sibiriens, Ob, Jenissej und Lena gehören zu den mächtigsten Strömen und Stromsystemen der Erde und ergießen sich ins Polarmeer. Auf der mongolischen Hochebene, südlich des Baikalsees, entspringt Sibiriens vierter großer Strom, der Amur, der in den Pazifik mündet.

Um den ältesten See der Erde, den Baikalsee, ranken sich zahllose Legenden. Noch im letzten Jahrhundert wurde dort nach den Spuren des Garten Eden geforscht.(1) Tatsache ist, daß der Baikal, der sich wie eine Sichel von über 600 Kilometern Länge zwischen die umgebenden Gebirgsketten legt, nicht mit Superlativen spart. Er ist der größte Süßwassersee der Erde und beinhaltet ein Fünftel der gesamten Süßwassermenge der Welt. Er ist der artenreichste und mit über 1.700 Metern tiefste See der Erde. Obwohl die Entfernung zum nächsten Ozean über 1.500 Kilometer beträgt, leben im Baikal zehntausende von Robben. Einer der kuriosesten Fische den wir kennen, der Golominka, lebt nur im Baikal.

Die mongolisch-tungiden Völker verehren den Baikal bis heute als heiliges Meer, "Dalai-Nur". Und auch die Russen haben größten Respekt vor diesem See, der sich, aufgepeitscht von wie aus heiterem Himmel von den umliegenden vulkanischen Bergen herabfegenden Gewitterstürmen, in ein tosendes Inferno verwandeln kann. Doch sein enormer Fischreichtum, allen voran der Omul, der dem Lachs ähnelt und außerordentlich schmackhaft ist, versöhnen die Anrainer mit seinen widrigen Seiten.

Der Baikal hat über 300 Zuflüsse, aber nur einen Abfluß, die Angara. Der Sage nach ist sie die Tochter des Baikalgottes Burkhan, der sie mit Amur verheiraten wollte. Doch sie vermählte sich heimlich mit Jenissej. Zornentbrannt schleuderte der Vater einen mächtigen Felsen nach ihr. Mit mäßigem Erfolg, denn bis heute strömt die Angara über die Obere Tunguska dem Jenissej entgegen. Die Spitze des Felsens ragt im Bereich ihres Austritts aus dem Baikal über die Wasseroberfläche und wird als "Schamanenstein" bezeichnet.

Olkhon ist die größte Insel des Baikal und liegt etwa 200 Kilometer nördlich der Angaramündung. An der westlichen Seite der fast 70 Kilometer langen Insel ragen über 100 Meter hohe Klippen auf, die zahlreiche Buchten abschirmen. Fast zwei Drittel der Insel sind seit den Rodungen, die schon in der Frühzeit begannen, verkarstet. Der nördliche Teil ist mit Kiefern, Lärchen und Birken bewaldet. Die Vegetation erinnert an die europäischer Hochgebirge, obwohl Olkhon nur 480 bis 650 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Doch das rauhe Klima mit seinen langen, eisigen Wintern, in denen der Baikal an bis zu 160 Tagen im Jahr mit gut tragendem Eis bedeckt ist, läßt den Pflanzen wenig Zeit für ihr Wachstum. Sie wirken wie Liliput-Exemplare der uns bekannten Arten. Neben Steppengräsern finden sich in großer Zahl Edelweiß, Absinth, gelber Mohn und Thymian.

Steppe

Heute leben die wenigen Menschen vor allem im Hauptort Chushir in Blockhäusern. Sie ernähren sich von Fischfang, Vieh- und Pferdezucht. Der felsige Boden macht eine systematische landwirtschaftliche Bewirtschaftung unmöglich. Die Bewohner sind ungefähr je zur Hälfte Russen und Burjaten. Die Burjaten sind mit ca. 251.000 Menschen die größte Gruppe unter den mongolisch-tungiden Völkern Sibiriens. Sie bilden eine selbständige Sprachfamilie und stellen mit ihren eigenen ethnisch-kulturellen Charakteristika den "wirtschaftlich-kulturellen Typus" des sibirischen Ureinwohners dar. Sie siedeln im Baikalgebiet und Transbaikalien hauptsächlich in der Nähe der Flüsse Uda, einem Nebenfluß der Selenga, und Oka, der in die Angara mündet, als halbseßhafte Nomaden. Und dies, wie die neuesten Untersuchungen belegen, ohne Unterbrechung seit dem Oberen Paläolithikum. Ihre Wanderungsbewegungen führten sie im Norden bis über die Behringstraße nach Amerika, wie die kulturellen Ähnlichkeiten zwischen den Indianern Nordamerikas, den Inuit und den Burjaten belegen. Im Süden hatten sie regen Kontakt zu den Mongolen. Im Osten gelangten sie bis zum Pazifik und im Westen gar bis in den Vorderen Orient.

Gerade die Ergebnisse der Khuza-Forschung zeigen, daß durch den Zeitgeist verblendete eurozentristische Urteile wie die des Historikers August Ludwig von Schlözer(2) jeder Grundlage entbehren. Und doch waren sie bis ins 20. Jahrhundert hinein prägend. Schlözer schreibt in seiner "Algemeinen Welthistorie durch eine Geselschaft von Gelehrten in Teutschland und Engeland ausgefertigt": "Wie die dort siedelnden Menschen lebten, ähnlich Wilden, ohne jede Beziehung mit Andersstämmigen und ohne Mittel, wenn sie etwas Denkwürdiges geschaffen hätten, dieses wenigstens der nächsten Generation zu überliefern, wie könne man sich vorstellen, daß von ihnen eine Geschichte existiere, obwohl eine solche in unsren historischen Systemen ein ganzes Buch füllen würde."

Im Gegensatz dazu weist der Gelehrte und Politiker Jean Sylvain Bailly(3) in seiner 1779 in Paris erschienenen Schrift "Lettre sur l'Atlantide de Platon et sur l'ancienne histoire de l'Asie" darauf hin, daß Atlantis keineswegs von den Wogen verschlungen und auch nicht Opfer einer Vulkankatastrophe wurde. Atlantis befand sich vielmehr, wie Bailly versichert, in der Tiefe des asiatischen Kontinents, auf einer Insel im "Heiligen Meer", auf der ein "aufgeklärtes Volk wohnte, das als erstes die Wissenschaft erfand und das Menschengeschlecht lehrte."

Die Besiedlung der Baikalregion begann unmittelbar in den Epochen der Entstehung des Menschen und der Gesellschaft. Die Radiokarbondatierungen archäologischer Funde reichen bis 35.400 ± 600 BP(4) zurück . Nach der Altsteinzeit entwickelten sich die dort lebenden Menschen von einer Kulturstufe zur nächsthöheren, vom Paläolithikum über das Mesolithikum und Neolithikum bis zur Bronze- und Eisenzeit. Die Werkzeuge entwickelten sich vom gröberen Steinwerkzeug zum vollkommenen. Die ersten Messer und Fischhaken aus Metall tauchen um 2.000 v. Chr. auf.

Eine herausragende Eigenart des sibirischen Kulturraumes und ein wesentlicher Unterschied zu Europa ist, daß er bis heute von der gleichzeitigen Existenz verschiedener Kulturformen geprägt ist. Neben den nomadisierenden Rentierhirten, deren Bewegung durch den Zug der Herden bestimmt wird, treffen wir auf halbnomadisierende Jäger und Sammler, Vieh- und Pferdezüchter und auch auf seßhafte, städtische Strukturen. In einer chronosimultanen Laborsituation sind hier Entwicklungsstufen ganz unterschiedlicher Epochen nebeneinander angesiedelt, die einander im europäischen Kulturraum im historischen Prozeß ablösten. Dies kann ein wesentlicher Grund für das Unverständnis sein, mit dem Forscher, die von der europäischen Zivilisationsidee geprägt wurden, diesen Lebensformen gegenübertraten. Zum anderen hat der auf China und die Mongolen fokussierte Blick dazu beigetragen, daß lange Zeit kein ernstzunehmender Versuch unternommen wurde, die eigenständigen zivilisatorischen Leistungen der sibirischen Völker genau zu untersuchen und zu würdigen.

So ist es nicht weiter erstaunlich, daß die Kultur der Khuza auf Olkhon allenfalls in ganz allgemeinen Betrachtungen der Geschichte und Lebensweise der mongolisch-tungiden Hirten- und Reiternomadenkulturen am Rande Erwähnung findet. Allein dem Zufall ist es zu verdanken, daß die Fühlungnahme mit der Khuza-Kultur nun doch aufgenommen werden konnte und die Spuren, die sie in der Kulturgeschichte und den Überlieferungen ihrer Nachbarvölker hinterlassen haben, nicht weiter in den Nebel des Vergessens zurücktreten.

Zu Beginn des Jahres 1995 stieß ich auf einen kurzen Artikel in der letzten Ausgabe des archäologischen Periodikums "Volk und Vorzeit" vom April 1946, der mein ganzes Interesse weckte. Denn er behandelt eine Kultur auf der Baikalseeinsel "Oi-chon", dem heutigen Olkhon, die Kultur der "Khuza" genannt, die eine der hochentwickelsten Kulturen der menschlichen Vor- und Frühgeschichte darstellt. Der Autor Karl Maria Görls(5) , Volkskundler, Prähistoriker und Philologe mit dem Spezialgebiet mongolaltaische Dialekte, war im Zweiten Weltkrieg Stukapilot. Im Winter 1943 wurde er bei einem Angriff auf eine russische Flakstellung über der Krim abgeschossen. Wie durch ein Wunder überlebt er den Absturz hinter den russischen Linien. Von Tataren verschleppt, verbirgt er sich nach einer abenteuerlichen Flucht durch Sibirien bei Hirtennomaden im Baikalgebiet. Dort hält er sich ein Jahr auf und kehrt dann über China, Afghanistan und den Irak und von dort an Bord eines portugiesischen Handelsschiffes, das ihn auf der Route um das Kap der Guten Hoffnung bis nach Lissabon bringt, im Dezember 1945 in das zerstörte Deutschland zurück. Kurz nach der Veröffentlichung seines Artikels, der zu Unrecht keine Beachtung fand, stirbt Görls an den Folgen der Malaria.

Karl Maria Görls widmet sich dem Leben und der Kultur des Baikal, aber auch den Legenden und Überlieferungen. Besonders aufschlußreich sind die folgenden Auszüge: "Sie berichten, daß ihre Vorfahren, die sie "Khuza" nennen, auf der Insel Oi-chon im Heiligen Meer siedelten und dort großes vollbrachten. ... Meinen Gastgebern konnte ich keine größere Freude bereiten, als wenn ich ihnen einen Ring schenkte und so verbrachte ich viele Stunden damit, diese in ganz unterschiedlicher Größe aus Holz, Knochen, Stein oder Draht zu fertigen. Sie verehren den Ring, da sich ihre Vorfahren die Erde ringgestaltig vorstellten. ... Immer wieder erzählen sie, welch große Seefahrer die Khuza waren und daß sie Instrumente besaßen, um auf dem Meer sicher zu navigieren. ... Sie sollen steinerne Bauwerke errichtet haben, vor allem Mauern, zu keinem anderen Zwecke, als sich an ihnen zu erfreuen. ... Immer wenn wir auf eine Straße treffen, stimmen sie eine eigentümlich traurige Litanei an. Dabei gedenken sie ihrer Vorfahren, die die Straße erfunden haben, aber auch an ihr zugrunde gegangen sind."

Diese Ausführungen waren letztendlich ausschlaggebend, die Expedition zur Insel Olkhon durchzuführen, an den Ort, an dem das Volk der Khuza einst lebte. Die Spuren ihrer Kultur, die wir dort entdeckten, übertrafen unsere kühnsten Erwartungen.

Anmerkungen
1 Benson Bobrick "Land der Schmerzen - Land der Hoffnung. Die Geschichte Sibiriens", Droemer Knaur 1993.
2 August Ludwig von Schlözer, Historiker; 1735 Gaggstadt - 1809 Göttingen.
3 Jean Sylvain Bailly, Wissenschaftler, Politiker; Paris 1736 - 1793 (hingerichtet).
4 Prof. Dr. Karl Jettmar "Geschichte der Archäologie in Sibirien und im Asiatischen Steppenraum", AVA-Beiträge des Deutschen Archäologischen Instituts Bonn, Band 5, 1983. BP: before precence, dt: vor der Gegenwart, also vor 1983 in Jahren.
5 Karl Maria Görls, Ethnologe, Historiker, Philologe; 1912-1946.

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