Karl Banghard M.A, Archäologe

Khuza-Amulette und ihre Imitationsformen

Archeologische Anmerkungen zu Verbreitung und Bedeutungswechsel

Wie identische Perlen einer einzigen zerrissenen Kette reihen sich zwischen Portugal und Jakutien die archäologischen Fundstellen von Objekten, die mit Hilfe der suggestofiktiven Methode im weitesten Sinn mit der Kultur der Khuza in Verbindung zu bringen sind. Die charakteristischen ringförmigen Amulette etwa finden sich vom Hardangerfjord im südnorwegischen Hordaland bis zum Murghab, dessen großflächigem Versickern in der turkestanischen Wüste die Oase von Merw ihr Leben verdankt.

Diese enormen Räume bieten einer wichtigen Fragestellung ausreichend Spielraum: Wo endet der direkte kulturelle Einfluß der Khuza und wo begann man - sich unbewußt an die Khuza-Kultur anlehnend - ähnlichen Objekten neue Bedeutungen beizumessen? Die plausibelste Antwort ist zunächst, daß die symbolische Beliebigkeit der Khuza-Ringe zunimmt, je weiter man sich vom Baikalsee entfernt. Das Ausstrahlungsgebiet der Khuza-Kultur wird in diesem Modell durch ein kreisförmiges Gebilde umschrieben, das von einem Chaos diffuser, “sinnentleerter" Randkulturen umgeben ist. Dieses Modell von Zentrum und Peripherie dürfte von einem Khuza als beunruhigend empfunden worden sein, zeichnet sich hier doch das umgekehrte Bild des Ringes ab.

Aber so einfach läßt sich das Problem nicht in den Griff bekommen. Ein solches Zentrum-Peripherie-Modell birgt die Gefahr eines khuzazentrischen Weltbildes. Wahrscheinlich erlagen selbst die Khuza in schwachen Momenten dieser Gefahr, obwohl ihre Weltsicht bekanntlich alles andere als zentrumsorientiert war. Um wieviel größer muß da die Versuchung für die moderne Khuzaforschung sein! Betrachtet man sich die Situation genauer, entsteht ein komplexeres Bild: Immer wieder bildeten sich oft an den überraschendsten Stellen neue, in sich stimmige Interpretationssysteme der Ringsymbolik heraus, die auf eigentümliche Weise an den ursprünglichen Bedeutungsinhalt anknüpfen. Eine umfassende Untersuchung aller Kulturphänomene, die auf Khuza-Einfluß zurückgehen, würde zwangsläufig einen enzyklopädischen Umfang annehmen. Deshalb sollen im folgenden nur beispielhaft einige Phänomene vorgestellt werden, die in einem suggestofiktiven Zusammenhang mit den Khuza-Ringen stehen.

Augenblickshalter

Wenden wir dazu unseren Blick zunächst nach Nordosten. Dort führt das Stanowoi-Hochland schleusenartig zu den Landschaften Ostsibiriens. Ringscheiben fungieren und fungierten hier als sogenannte Augenblickshalter. Man greift meistens zum Augenblickshalter, der zu diesen Zwecken stets am Gürtel getragen wird, wenn einen die Melancholie überfällt. Mit dem Blick durch die Lochscheibe versucht man sich das Hier und Jetzt besser zu vergegenwärtigen. Ostsibirische Völker benutzen Augenblickshalter bevorzugt sitzend im windbewegten Grasland.

Unabhängig davon gibt es Lochscheiben derselben Funktion an zwei anderen, weit entfernten Stellen; in der Hungersteppe zwischen Syrdaria, Balchaschsee und Tienschan sowie im nordwestlichen Alpenvorland. In der Hungersteppe zeigt sich die starke Wirkung von Augenblickshaltern auf den Menschen besonders deutlich. Der salzige Wind läßt in dieser Gegend die Augen schnell ermüden. Dennoch wollen Reisende Nomaden mit Augenblickshaltern stundenlang regungslos in der Steppe sitzend gesehen haben.

Selbst aus den Pfahlbausiedlungen am Alpenrand sind solche Geräte bekannt geworden. Vielleicht hängt der Konservativismus der endneolithischen “Horgener Kultur" mit der Benutzung von Augenblickshaltern zusammen. Zumindest wurde in den umgebenden, jeder kupferzeitlichen Neuerung bereitwillig offenstehenden Kulturgruppen kein einziger Augenblickshalter entdeckt.

Masurische Schwirrkörperkultur

Im nördlichen Polen wurden angefeilte Lochscheiben auf andere Art genutzt. Indem man entsprechend präparierte Scheiben an einer Bastschnur kreisen läßt, werden Brummtöne erzeugt. Das Brummen soll die Geräusche imitieren, die einem Sterbenden den herannahenden Tod ankündigen. Die Motivation zur Benutzung von Schwirrscheiben und Augenblickshaltern ist ähnlich. Fast ausschließlich werden Schwirrscheiben stehend an einem der vielen masurischen Seen benutzt.

Ritzenschlüpfer

Rein symbolische Bedeutung haben Lochscheiben in abgelegenen Teilen Skandinaviens. Man erinnert sich anhand ihrer der beliebten Fabel vom Rattenhimmel: Zwei Ratten gelangen durch zwei eingemauerte Lochscheiben in unterschiedliche Bereiche eines Hauses. Die eine erreicht durch ihr Loch die Speisekammer und wird dort so fett, daß sie weder durch eine kleine Lochscheibe in einen unbekannten Raum, noch durch die alte Öffnung nach außen paßt. Sie wird schließlich gefangen und stirbt verblödet als Kuschelratte. Die zweite Ratte verschlägt es hingegen in den Tanzraum. Sie tanzt dort, bis sie so stark abnimmt, daß sie durch eine zweite Lochscheibe paßt. Am anderen Ende wartet der Rattenhimmel auf sie. Fragt man nach der Bedeutung dieser Fabel, bekommt man meist zur Antwort, daß die Lochscheibe den Spalt zwischen zwei Bewußtseinsebenen markiere.

Die Beispiele zeigen, wie sich aus dem ursprünglichen Impuls vom Olkhon-Gebiet neue Interpretationen - geradezu Renaissancen - des Khuza-Gedankensystems formieren konnten.

Sicherlich eine wichtige Rolle beim Transport des Khuza-Ideengutes spielen die Straßen. Allerdings muß berücksichtigt werden, daß noch lange nicht alle Straßen bekannt sind. Darüber hinaus ist es meiner Ansicht nach noch lange nicht ausdiskutiert, ob Khuza-Straßen überhaupt errichtet worden sind, um irgend ein Ziel zu erreichen.

Auch die vorliegende Problemskizze will nicht auf ein starres Modell zum Wirkungsgefüge der Khuza-Kultur abzielen. Vielmehr hat das Ideengut der Khuza so stark gewirkt, daß es in ganz unterschiedlichen Kulturen jeweils auf eigene Art umgesetzt worden ist. Aufgrund der ungemein hohen Strahlkraft dieses Ideengutes ist man versucht zu resümieren: Khuza ist überall.

Karl Banghard M.A., Archäologe, Pfahlbaumuseum Uhldingen (Bodensee)

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