Kapitel V

Ritus und Kultus

Im Zentrum des Lebens und der kultischen Handlungen stand der Kultplatz. Die Khuza legten ihre Kultplätze kreisförmig an. Zwei davon fanden wir im Bereich Elga und Sebete. Der Elga-Kultplatz liegt in einer Senke zwischen der Elga-Siedlung und der Bucht. Er ist grasbewachsen und hat einen Durchmesser von ca. 100 Metern. Mit Hilfe des Burjaten Kolja und seiner Beiwagenmaschine konnte ich ihn in einer einstündigen Fahrt mehrmals umrunden. So kam ich jenem tranceartigen Zustand nahe, in den sich die Schamanen bei der Suche nach der Mitte versetzt haben mögen. Rinderknochenfunde in der Mitte des Platzes belegen die heutige Nutzung als Schlachtplatz. Im Kern findet sich hier die Fortsetzung einer rituellen Handlung an einem traditionell kultischen Ort. Der Sebete- Kultplatz liegt zwischen der Straße nach Chushir und den Klippen. Auch er hat einen Durchmesser von etwa 100 Metern. Die trockene, aufgerissene Erde, die mit roten Bodendeckern bewachsen ist, hebt ihn deutlich von seiner Umgebung ab.

Der Kultplatz war der Ort, an dem das Fischorakel befragt wurde. Auf Olkhon wurden mehrere quaderförmige Steinblöcke neolithischen Ursprungs gefunden, in die eine zentrale, halbkugelförmige Höhlung von 50 bis 100 Zentimeter Durchmesser eingehauen war. Die Technologie zu deren Herstellung bleibt im Dunkel. Dafür ist ihre Funktion enträtselt: Es handelt sich um Fischorakelsteine. Stämme, die am Baikal leben, verehren den Fisch bis heute. Die Khuza nutzten ihn auch als Orakel. Die Höhlungen der Steine wurden mit Wasser gefüllt und ein frisch gefangener Fisch eingesetzt. Über einen bestimmten Zeitraum wurden die Bahnen, die er schwamm, verfolgt und daraus tiefgreifende Schlüsse gezogen. So gilt als gesichert, daß eine kontinuierliche Kreisbahn, die der Fisch über eine längere Zeit zog, bedeutete, daß alles so bleibt wie es ist.

Das Fischorakel wurde auch für die Heilung von Kranken genutzt. Die Bahn des Fisches wurde mit dem verkohlten Ende eines Hölzchens auf ein dünnes Stück Birkenrinde gezeichnet und dem Kranken zu schlucken gegeben. Dieser Aufzeichnung wurde heilende Wirkung zugeschrieben. Die "Schluckzettel" haben sich als ein Teil der schamanistischen Heil-kunst bis heute in Sibirien und der Mongolei erhalten. Zusätzlich konnte der Orakelfisch ausgenommen und seine Organe befragt werden. Auch dem Wasser des Fischorakelbeckens wurden heilende Kräfte zugeschrieben. Seine Anwendung erfolgte als Einreibung oder Aufguß mit Kräutern.

Auf die Khuza geht ein Brauch zurück, der noch heute von den Burjaten bei der Brautwerbung angewandt wird, das "Ringtrinken". Der werbende Mann betritt mit 12 Flaschen Wodka das Haus der Brautfamilie, die sich dort auf dem Boden im Kreis sitzend versammelt hat. Für alle steht ein Wasserglas bereit. Der Brautwerber setzt sich der Braut gegenüber in den Kreis und füllt die Gläser bis zum Rand. Dann bedient er im sogenannten "cross-over-service". Er reicht die Gläser mit der rechten Hand nach links und, indem er seine Arme überkreuzt, mit der linken Hand nach rechts. Alle Anwesenden geben die Gläser auf die gleiche Art weiter. Wie in Rußland üblich, wird sehr schnell getrunken. Sind alle Flaschen leer, stellt der Brautwerber seinen Heiratsantrag. Interessanterweise antwortet ihm nicht der Brautvater, sondern die Braut selbst. Sind die Beteiligten auf Grund der Alkoholeinwirkung nicht mehr zu klarer Kommunikation in der Lage, ist die Werbung ungültig.

Das Heiratsritual wurde immer im Juni vollzogen. Innerhalb des Kultplatzes liefen die Männer auf einer vom Schamanen mit Sand aufgezeichneten Kreisbahn. Die heiratsfähigen Frauen bewegten sich durch diesen Kreis auf einer Linie hin und her, die zur Weltmitte hin ausgerichtet war und die Kreisbahn der Männer an zwei Stellen kreuzte. Dabei trugen die Männer Kreislaufschuhe mit seitlich abgeschrägter Trittfläche, die Frauen Linienlaufschuhe mit planer Sohle. Während die Männer im Kreis liefen und die Frauen ihre Bahn kreuzten, stimmte der Schamane die "Große Heiratsbeschwerde" an. Es handelte sich dabei um einen Gesang von ausgesuchter Traurigkeit und Langeweile, bei dem in fortlaufendem monotonen Sprechgesang etwa die folgenden Formeln wiederholt wurden: "Warum hast du mich geheiratet?" "Warum bist du mit mir kollidiert?" "Du bist langweilig!" "Du bist hysterisch!" "Du bist impotent!" "Du bist zu fett!"... Dabei übernahm der Schamane, indem er seine Stimme hob bzw. senkte, immer abwechselnd einen weiblichen und einen männlichen Part. Der Gesang kann also als Zwiesprache lange Verheirateter verstanden werden. Die Heiratsbeschwerde wurde so lange fortgesetzt, bis sich alle Paare gebildet hatten. Wie geschah dies nun? In der Heiratsbeschwerde wird schon darauf hingewiesen in dem Ausruf: "Warum bist du mit mir kollidiert?" Wie beschrieben, kreuzten sich die Wege der Männer und Frauen. Kam es dabei zu einer Kollision zwischen einem Mann und einer Frau, so galten beide als verheiratet. Man kann sich leicht vorstellen, welches Gerangel dabei entstand, solange die attraktivsten Männer und Frauen noch teilnahmen und wie zäh der Verlauf gegen Ende wurde. Doch das Ritual wurde so lange fortgesetzt, bis sich alle Paare gebildet hatten.

Am nächsten Tag ging der Mann in der Siedlung an den Bau der Ringmauer, innerhalb der das neue Heim der Familie, die Jurte, errichtet wurde. An der Stelle, an der der Mann mit dem Bau begonnen hatte, hob die Frau die Geburtsmulde für das erste Kind aus. Kurz vor der Geburt wurde über der Mulde eine kleine Jurte errichtet. Dort gebar die Frau in Hockstellung. Für jedes weitere Kind wurde eine neue Geburtsmulde gegraben; ihre Lage bestimmte das Fisch- oder Taschenorakel.

Wie eine moderne psychotherapeutische Methode mutet das Ritual an, das sich mit der "Irritationslehre" der Khuza verbindet. Der Kern der Irritationslehre ist die Negation jeder Innovation und läßt sich wie folgt skizzieren: Alles, was der Mensch unternimmt, verändert ihn und seine Umgebung. Jede Veränderung irritiert. Somit irritiert sich der Mensch als tätiges Wesen ständig selbst. Das Ziel des Lebens ist die weitestgehende Vermeidung dieser Autoirritation. Kam es bei einem Khuza zu einer "Autoirritationskrise", so versuchte der Schamane diese durch das "Irritationsritual" zu beheben. Dazu wurde eigens eine Mauer errichtet. Der Khuza trat eng an sie heran und legte seine Stirn gegen die Steine, während der Schamane auf der anderen Seite stand und beschwörend auf ihn einredete. Danach wurde die Mauer eingerissen und die Steine - quasi als Träger der Irritation - in den See geworfen.

Eine weitere Übung zur Herstellung des inneren Gleichgewichts stellt das "La-Li-Lo" dar, ein Vorläufer des Yoga. Es handelt sich um religiöse Übungen (Exerzitien), die jeder Khuza durchführte. Die Übungen bestanden aus 3 Stufen. Ziel war die Harmonisierung von Laut - La / Li / Lo- und Bewegung, indem während des Singens mit Armen und Beinen Ringfiguren dargestellt wurden. Diese Figuren stellen den Versuch dar, die eigene Mitte zu finden. Ihre Wirkung wird deutlich, wenn man sie selbst durchführt.

Wie wir gesehen haben, konnten die Khuza durch besondere Taten oder Fähigkeiten Namenszusätze erwerben. Je länger der Name, umso größer war das Ansehen der Person. Der Schamane konnte durch die Länge seines Namens ermittelt werden. Die drakonischste aller denkbaren Strafen stellte für die Erwachsenen die "Namenbeschneidung" dar, reduzierte der beschnittene Name doch jede Aufstiegschance in der Stammeshirarchie. Andererseits wurde der Name der Neugeborenen gleich nach der Geburt beschnitten und die Namensreste in der Geburtsmulde symbolisch vergraben. Jeder neugeborene Khuza hatte so die gleiche Möglichkeit, sich im Laufe seines Lebens einen Namen zu verdienen und vielleicht sogar als Schamane die Führung des Stammes zu übernehmen.

Navigation und Totenkult, Seefahrt und Seelenwanderung waren bei den Khuza eng miteinander verbunden, wie die Lage der Gräber über der Bucht von Sebete zeigt. Sie geben Einblick in die Begräbnisriten der Khuza. Die Khuza bestatteten ihre Toten in ringförmiger Lage, sowohl in horizontalen als auch in vertikalen Ringgräbern. Die Vertikalgräber ähneln in der äußeren Form unseren europäischen Gräbern. Sie haben einen rechteckigen Grundriß von 2 Meter auf 80 Zentimeter. Horizontale Ringgräber haben einen Durchmesser von 3 bis 5 Metern. Die Zuordnung der Verstorbenen in Horizontal- und Vertikalgrab ist nicht endgültig geklärt. Die Kulturgeschichte gibt uns jedoch einen naheliegenden Hinweis. Es ist wahrscheinlich, daß die Khuza die Sekundärbestattung praktizierten. Die Toten wurden zunächst vertikal bestattet, später exhumiert und die knöchernen Überreste in Horizontalgräbern ringförmig neu arrangiert. Die Seele war nach der Verwesung des Fleisches befreit. Durch die erneute Bestattung der Knochen in ringförmiger Lage erwies man dem Toten einen Dienst, der ihm sein ganzes Leben versagt geblieben war: er näherte sich dem Weltenring und seinem großen Mysterium, der fehlenden Mitte.

vorheriges Kapitel   Textanfang   Inhalt   nächstes Kapitel