Kapitel IV

Weltbild und Religion

Der Grund für die Verehrung, die die Khuza dem Ring und den parallelen Linien entgegenbrachten, liegt in ihrem Weltbild begründet. Sie stellten sich die Erde als Ring vor. Der Urmythos der Khuza, ihre Schöpfungsgeschichte, gibt uns Aufschluß darüber, wie es zu der Vorstellung von der ringförmigen Erde kam.

Am Anfang der Welt, so wird noch heute auf Olkhon erzählt, standen drei Sonnen am Himmel, unter dem sich nichts als kochendes Wasser ausbreitete. Es gab nicht Tag und Nacht. Gleißendes Licht und unerträgliche Hitze erfüllten die Luft. Da sandten die ersten Menschen, Khuto der Mann und die beiden Frauen, Dschultscha und Manilschi, drei Schwäne aus, um nach Steinen und Sand für die Erde zu tauchen. Sieben Tage waren sie unter Wasser und tauchten schließlich mit 12 Inseln auf.(1)

Nun hatte zwar jeder der Menschen festen Boden unter den Füßen, doch sie konnten sich nicht treffen, denn zwischen den Inseln breitete sich der Ozean aus. Da befahl Khuto den Schwänen, so kraftvoll die Inseln zu umrunden, daß das Wasser auseinanderströmte und die Inseln sich verbinden konnten. So geschah es. Die Schwäne zogen einen Ring um die Inseln, peitschten das Wasser mit ihren Flügeln und Füßen hinweg und es entstand der Weltring.

Doch noch immer war es so unerträglich heiß, daß Steine und Erde kochten. Da nahm Khuto Pfeile und seinen Bogen, bestieg einen Schwan und flog auf ihm gegen die Sonnen. Zwei von ihnen traf er. Die eine stürzte in die Weltmitte und verlosch. Die andere zersplitterte. Ihre Splitter verteilten sich über das Firmament und wurden die Sterne.

Alles war nun zum besten gerichtet und der Tag der großen Harmonie begann. Die ersten Menschen lebten rhythmisch, zyklisch und zufrieden und genossen die Kühle der ersten Nacht. Wären da nicht die Unwägbarkeiten des Lebens wie Tod, Unwetter, schlechtes Essen und andere Übel, die Unruhe und Unfrieden bringen. So begann schon am zweiten Tag das "Zeitalter der großen Unzufriedenheit", als jener Schwan tot am Boden lag, mit dem Khuto gen Himmel geflogen war. Er war vor Überanstrengung verendet. Große Melancholie erfüllte die Menschen und sie stimmten die "Große Weltbeschwerde" an. Die beiden anderen Schwäne starben vor Kummer.

Von den Pfeilen, die Khuto abschoß, trafen zwei nicht ins Ziel. Sie kreisen bis heute um den Erdenring. Der eine bringt den Tod. Trifft der andere einen Menschen, so hört er ein Glöckchen, das ihn zum Schamanen beruft. Das Ende der Welt ist nach der Khuza- Mythologie angebrochen, wenn aus der Mitte des Weltrings Rauch aufsteigt, der "Atem der verglühten Sonne", der die Welt verhüllt und alles Leben erstickt.

Die Erde als Ring, welch faszinierender Gedanke! Die sichtbare Welt umschließt ein geheimnisvolles Zentrum, das nur gedacht werden kann, ein Loch, ein Nichts, die fehlende Mitte. Diese Vorstellung gibt nicht nur Anlaß für weitreichende philosophische Betrachtungen, sie hatte auch tiefgreifenden Einfluß auf die Befindlichkeit der Khuza. Das Gefühl, ausserhalb der Mitte zu stehen, ja die Mitte selbst nicht fassen zu können, führte zu häufigen melancholischen Verstimmungen. Ihr Hang zur Beschwerde, der sich in ihren Riten und Kulten niederschlug, führte zu einer Kultur, die als "Beschwerdekultur" in die Entwicklungsgeschichte der Menschheit einging.

Wie wir gesehen haben, spielte die Ringform eine entscheidende Rolle im täglichen Leben der Khuza. Sie errichteten ringförmige Mauern, um ihre runden Behausungen zu schützen. Zahlreiche Kult- und Gebrauchsgegenstände sind von der Ringform abgeleitet. Ihre Toten bestatteten sie in Ringgräbern, ihre Kultplätze waren kreisförmig angelegt. Die Religion der Khuza war vor allem darauf ausgerichtet, das "Zeitalter der großen Unzufriedenheit" zu überwinden und gründete auf vier wesentlichen Prinzipien: der Verehrung des Ist-Zustandes, seiner Erhaltung, der Wiederholung und der Vermeidung jeder Veränderung. Gerade der letzte Punkt und das in ihm enthaltene vorbestimmte Scheitern führte zu der legendären Melancholie der Khuza, die schon im Urmythos angelegt ist.

Der Khuza-Religion liegt ein empfangendes Prinzip zugrunde, das die folgende "Kette der Abhängigkeiten" anschaulich wiedergibt. Der Mensch richtet sich nach der Erde, die Erde nach dem Himmel, der Himmel nach dem großen Ring, der dem "Gesetz der fehlenden Mitte" folgt. Das Streben nach Absicht und Zweck ist zu unterlassen. Der Mensch soll sich keine Verdienste und Vorzüge zuschreiben, vielmehr still abwarten. Da das Weltprinzip die Wiederholung ist, so wie die Sonne auf- und untergeht, soll auch der Mensch in seinem Leben nach der Wiederholung trachten. Alles gewaltsame Streben und Handeln, das auf Veränderung abzielt, wird als völlig sinnlos verworfen. Es kommt einzig darauf an, daß sich der Mensch seines inneren Zusammenhangs mit den Naturkräften bewußt wird und bleibt. Die Khuza hatten keinen Begriff von Zukunft. In der ständigen Wiederholung und im Vergessen erlangten sie das höchste Maß an Zufriedenheit.

Die Religion der Khuza ist eng mit dem Schamanismus verbunden, der sich in Sibirien erhalten hat und heute eine Renaissance erlebt. Es handelt sich dabei um eine Weltanschauung, die auf der Seelenwanderung basiert und auf dem Glauben an die Fähigkeit bestimmter Menschen, der Schamanen, in einem Trancezustand Verbindung zur Welt der Geister aufzunehmen. Der Schamane heilt Krankheiten, beeinflußt die Natur, fördert die Jagd. Sein Einfluß reicht praktisch in alle Bereiche der sichtbaren und unsichtbaren Welt. Seine Hauptaufgabe bei den Khuza war, das rätselhafte "Gesetz der fehlenden Mitte" zu entschlüsseln.

Dem Schamanen als Mittler zwischen den Welten und als "Mittensucher", der die fehlende Weltmitte zu erkunden hatte, um deren Kräfte nutzbringend anzuwenden und die negativen Einflüsse zu bannen, kam in der Khuza-Gesellschaft entscheidende Bedeutung zu. Wer zum Schamanen berufen ist, wird laut dem Schöpfungsmythos der Khuza von Khutos Pfeil getroffen und hört ein Glöckchen. Dessen Klang folgt er, bis er auf einer Birke die Utensilien des Schamanen findet: Horn, Spiegel und Glöckchen. Ein Schamane nimmt seine Berufung akustisch wahr. Dies ist auch der Grund, weshalb Schamanen Ohrplastiken als Grabbeigabe beigelegt wurden. Ein sehr gut erhaltenes Exemplar fanden wir im Gräberfeld von Sebete.

Bei ihren Ritualen benutzen die Schamanen seit jeher Drogen. Bei den Schamanen der Khuza stand dabei der Absinth im Vordergrund. Herba Absinthii, auch Wermut genannt, kommt auf Olkhon massenhaft als 10 bis 20 Zentimeter hoher Halbstrauch vor. Sein Geruch ist aromatisch, der Geschmack stark und anhaltend bitter. Als Droge enthält er hauptsächlich Thujon. Dieser Suchtstoff führt zu Übelkeit und Erbrechen, Bewegungs- und Empfindungsstörungen bis hin zu Degenerationserscheinungen im Zentralnervensystem mit Erblindung, physischem und psychischem Verfall, zu Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Lethargie und Stupor. Allein diese Aufzählung weist eine verblüffende Übereinstimmung mit dem Grundcharakter der Khuza auf, ihrer Melancholie, ihrem Mißmut und ihrer Lethargie. Es kann als gesichert gelten, daß die Khuza-Kultur vom übermäßigen Genuß dieser Droge stark geprägt wurde und dies nicht unerheblich zu ihrem Verschwinden beitrug. Neben Wermut stellten die Khuza Wodka aus Stutenmilch her. Dazu benutzten sie Destillen aus Holz, wie sie noch heute im Heimatkundemuseum von Irkutsk zu besichtigen sind.

Eine Welt ohne Mitte ist eine bedrohliche Vorstellung. Welcher Art ist dieses Loch, das sich da auftut, was ist sein Wesen und zu welchem Zweck existiert es? Die einzigen, die nach Ansicht der Khuza diese Fragen erschöpfend beantworten konnten, waren die Zusliks, die heiligen Tiere Olkhons. Diese Erdmännchen, die noch heute die Insel in großer Zahl besiedeln, hausen in Erdbauten und wurden von den Khuza als Mittler zur Weltmitte verehrt, da sie glaubten, die Zusliks könnten sich durch den Erdring graben und Botschaften von der Mitte zur Peripherie und umgekehrt überbringen.

Die Khuza selbst versuchten, das Vakuum der Mitte durch zahlreiche kultische Handlungen zu begreifen und auszufüllen.(2) Das größte Projekt dieser Suche nach der Mitte war der Bau der großen weltumspannenden Straße. Bezeichnend für die Khuza ist, daß es sich um eine kultische Straße handelt. Sie diente also nicht dem Zweck, den wir einem solchen Vorhaben im 20. Jahrhundert beimessen, etwa der schnelleren Verkehrsverbindung oder dem Handel. Das Ziel war rein religiös motiviert. Die Straße sollte sich wie ein Band um die Erde legen, die Mitte umfassen und die widerstreitenden Kräfte der Welt versöhnlich stimmen.

Die gleiche Vorstellung treffen wir bei der Namensgebung an. Denn neben der oben beschriebenen Berufung konnte der Schamane auch durch die Länge seines Namens ermittelt werden. Diese "weltliche" Berufung stellte sicher, daß die Reihe der Schamanen nicht abriß. Wie die große, weltumspannende Straße, so sollte der Name des Schamanen die Welt umfassen. Jede Frau und jeder Mann konnte sich bei den Khuza Namenszusätze durch besondere Taten oder Fähigkeiten erwerben, durch einen besonderen Jagderfolg ebenso wie durch eine wohlformulierte Beschwerde. Je länger der Name, umso größer war das Ansehen der Person.

Die tiefe Melancholie und der Mißmut der Khuza, die schon aus dem Schöpfungsmythos sprechen und die man im Verlauf des Aufenthaltes in der öden und kargen Landschaft Olkhons, in der man sich ans Ende der Welt versetzt fühlt, am eigenen Leibe erfahren kann, führte sie zu einer Kulturform, die wir als "Beschwerdekultur" bezeichnen. Die Beschwerde war für die Khuza ein ganz normaler Teil ihres Lebens. Wird dies vom Standpunkt der mitteleuropäischen Kultur eher negativ gewertet, so hatte der ritualisierte Charakter der Beschwerde für die Khuza durchaus eine im psychischen Sinn befreiende Wirkung, vergleichbar dem Gebet im christlichen Kulturkreis. So fanden vor dem großen Beschwerdestein, den wir in der Siedlung Elga entdeckten und dessen menschliche Gesichtszüge noch deutlich zu erkennen sind, die gemeinsamen Beschwerderituale der Khuza statt. Deren Ablauf kann heute nicht mehr mit letzter Sicherheit rekonstruiert werden. Möglicherweise versammelte sich der Stamm jeden Abend und bildete einen Kreis um den Beschwerdestein. Dann hob der Schamane mit einem klagenden und jammernden Gesang an. Das heutige Obertonsingen dürfte uns einen weitgehend authentischen Eindruck davon geben. Für den persönlichen Hausgebrauch schufen die Khuza 10 bis 15 Zentimeter hohe Beschwerdefiguren aus Stein, an die sie mehrmals täglich ihre melancholischen Klagen richteten. Eine solche Beschwerdefigur ist Teil unserer Sammlung von Fundstücken.

Die Beschwerde bildete auch die Grundlage der Literatur. Als Spitzenwerk der Khuza- Literatur gilt die "Große Weltbeschwerde", die sich mit der Unwirtlichkeit und den Unwägbarkeiten des Lebens in einer sich unerträglich wandelnden Welt beschäftigt. Leider ist davon nichts überliefert. Allerdings geben uns viele burjatische Redewendungen einen Eindruck von ihrem Inhalt: "Das Neue bringt nichts Gutes." "Wenn dir eine Robbe entwischt, entwischt sie immer wieder." "Vergessen ist die Voraussetzung für Zufriedenheit." "Wer seinen Weg zwischen den Linien verläßt, wird den Ring nie durchschreiten." "So könnte es sein, wenn es werden würde, wie es ist."

Anmerkungen
1 Zahlreiche Darstellungen auf russischen Eisenbahnwagons zeigen in Anlehnung an
  sehr frühe astronomisch-astrologische Darstellungen die 12 Monde der Khuza-Mythologie.
  Ihre heutige Anwendung und Bedeutung ist unbekannt.

2 vgl. Kapitel V "Ritus und Kultus".

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