Gespräch zwischen Klaus Heid und Jörg Brombacher über die Khuza-Kultur und über ihre Arbeitsansätze

Jörg Brombacher: Du hast in Sibirien die Khuza-Kultur erforscht. Was bedeutet "Khuza"?

Klaus Heid: "Khuza" ist der Name eines sibirischen Volkes, das die Insel Olkhon im Baikalsee vom Neolithikum bis etwa ins 12. Jh. besiedelte. Die Khuza hatten ein faszinierendes Weltbild und ihre zivilisatorischen Leistungen sind ganz enorm. So erfanden sie die Straße und hatten, wie unsere Funde belegen, hohe handwerkliche Fähigkeiten.

J.B.: Worin besteht das Faszinierende des Khuza-Weltbildes?

K.H.: Die Khuza stellten sich die Erde als Ring vor. Das ist ein unglaublicher Ge-danke, den nachzuvollziehen uns heute nicht leicht fällt. Wenn ich auf einem Ring lebe, dann befinde ich mich permanent an der Peripherie, bin sozusagen durch die natürlichen Vor-gaben an den Rand gedrängt. Die Mitte existiert nicht, sie ist ein Loch, ist nicht greifbar. Das Leben der Khuza war bestimmt von der Suche nach der fehlenden Mitte.

J.B.: Eine deprimierende Vorstellung, wenn die Mitte fehlt.

K.H.: Das hatte sicherlich weitreichenden Einfluß auf die Befindlichkeit der Khuza. Nicht umsonst sind ihre Melancholie und ihr Mißmut bis heute legendär. Dieser Gemüts-zustand ist schon in ihrem Schöpfungsmythos angelegt. Kaum ist die Welt erschaffen, beginnen die ersten Menschen, sich über die Unwirtlichkeit ihrer Le-bensbedingungen zu beschweren. Und die “Beschwerdekultur", die sich daraus entwickelte, zieht sich durch alle Bereiche der Khuza-Kultur.

J.B.: Das klingt geradezu tragikomisch!

K.H.: Ich weiß nicht, ob diese Interpretation richtig ist. Die Beschwerde hat ja eine be-freiende Wirkung, und das zieht sich durch viele Kulthandlungen der Khuza. Außerdem darf man nicht vergessen, wo die Khuza lebten. Ich habe ja selbst fast 2 Wochen auf Olkhon gelebt. Man fühlt sich dort ans Ende der Welt versetzt...

J.B.: ...in der Vorstellungswelt der Khuza sogar ans Ende der Peripherie der Welt...

K.H.: ...das kommt noch dazu! Im Juli und August 1995, als wir die Forschung durch-führten, war das Wetter sehr angenehm, wobei die Nächte recht kühl waren. Aber man sieht der Landschaft an, wie hart und lang die Winter sind. Mindestens zwei Drittel des Jahres ist das Land mit Schnee und Eis bedeckt. An Landwirtschaft ist gar nicht zu den-ken, da der Boden verkarstet ist. Dort zu leben ist sicher kein Vergnügen und ich habe größte Hochachtung vor den Menschen, die diese Ge-gend besiedelten und die dort heute leben. Sie führen eine harte Existenz und daß die Khuza dort eine Beschwerde-kultur entwickelt haben, wundert mich gar nicht.

J.B.: Wovon leben die Menschen dort?

K.H.: Hauptsächlich vom Fischfang. Der Baikal ist ja eigentlich kein See, der Baikal ist ein Meer mit einem ungeheuren Fischreichtum.

J.B.: Wie bist Du bei deiner Forschungsarbeit vorgegangen?

K.H.: Als ich Olkhon erreichte, hatte ich schon recht genaue Vorstellungen, wonach ich zu suchen hatte. Eine Kultur, die sich die Welt als Ring vorstellte, mußte Spuren hinter-lassen haben, die sich an die Ringform anlehnen. Es war ein Risiko, da noch niemand zuvor in dieser Richtung recherchiert hatte. Umso überraschter war ich, wie viele ring- und kreisförmige Strukturen ich in der Landschaft entdeckte. Vom ersten Tag an stolperte ich geradezu über Spuren und Überreste der Khuza-Kultur. Es war ein fantastisches Gefühl, meine Hypothesen so nachhaltig bestätigt zu sehen.

J.B.: Du hast ja etwa 50 Fundstücke aus der Zeit der Khuza gesammelt; für die kurze Zeit, die du auf Olkhon warst, eine enorme Ausbeute.

K.H.: Und ich muß betonen, daß es sich bei meiner Forschung um reine Prospektion, d.h. Oberflächenerkundung gehandelt hat. Ich habe nicht gegraben, dafür war die Zeit viel zu kurz.

J.B.: Die Fundstücke lagen dort einfach so herum?

K.H.: Ja richtig, denn offensichtlich hatte sich noch niemand die Mühe gemacht, in der Richtung meines Modells zu forschen, geschweige denn, die suggestofiktive Methode anzuwenden.

J.B.: Du bist der Erfinder der suggestofiktiven Methode. Was hat es damit auf sich?

K.H.: Die Methode selbst ist gar nicht so neu, ich habe also genaugenommen nicht die Methode erfunden, wohl aber die Bezeichnung für sie. Ich habe ja einige Jahre naturwis-senschaftlich gearbeitet. Dabei stellt sich permanent die Methodenfrage. Mit 20 Jahren war ich vollständig von der Möglichkeit objektiver Forschung über-zeugt. Das ist heute nicht mehr der Fall. Indem die Naturwissenschaft eine - meiner Meinung nach künstliche - Trennung zwischen ästhetischer und analytischer Er-kenntnisfähigkeit postuliert, beschneidet sie sich selbst und macht sich und den Menschen etwas vor. Wissenschaftliche Methoden suggerieren zwar Objektivität, zumindest die Interpretation ihrer Ergebnisse läßt jedoch ein weites Feld für Speku-lation, Suggestion und Fiktion zu. Darüber muß man sich im Klaren sein. Die sug-gestofiktive Methode funktioniert übrigens auch in der Liebe. Es handelt sich also um eine sehr umfassende Methodik und ich habe gute Gründe für die Annahme, daß sie universell anwendbar ist. Um das zu untersuchen wird in Kürze die “Gesellschaft für suggestofiktive Methodik" gegründet.

J.B.: Du bezeichnest deine Arbeit als künstlerische Forschungsarbeit. Was ist dar-unter zu verstehen?

K.H.: Zunächst allgemein gesagt: wenn ich mir die Welt oder einen Teilbereich der Welt aneigne, dann nehme ich mich selbst auf diese Entdeckungsreise immer mit. Das heißt, es gibt keinen objektiven Zugang zur Welt außerhalb meiner selbst. Meine Erfahrungen, meine Biografie, meine Sozialisation, meine Gene und was weiß ich noch alles bestimmen mein Verhalten in der Welt, lenken meinen Blick auf sie und beeinflussen meine Schlußfolgerungen über sie. Ganz gleich, ob ich ein Virus untersuche oder eine Insel, ich selbst bin das Referenzsystem meiner Wahrnehmung. Mein Weltbild bestimmt mein Bild von der Welt und umgekehrt.

J.B.: Der Beobachter beeinflußt den Gegenstand seiner Beobachtung allein da-durch, daß er ihn beobachtet.

K.H.: Ja, und die Qualität des Ergebnisses ist keine unabhängige Größe, sondern abhängig von der Qualität der Beobachtung. Daher ist der Streit um den Wert der ästhetischen und der analytischen Forschung ganz überflüssig. Beide Ansätze müssen sich ergänzen und gegenseitig wertschätzen und genau aus diesem Grund bezeichne ich meine Arbeit als künstlerische Forschungsarbeit und meine Methode als suggestofiktiv. Alles entscheidend ist letztendlich die Einbildungskraft, wie Bachelard sagt: "vor der Aktion arbeitet die Einbildungskraft".

J.B.: Was sind deiner Meinung nach die wichtigsten Erkenntnisse der Khuza-Forschung?

K.H.: Die wichtigsten Erkenntnisse ergeben sich aus den wichtigsten Entdeckungen auf Olkhon. Das sind die Straßen, die Siedlungen, die Gräberfelder und die Fundstücke, die den großen Einfluß der Khuza-Kultur bis nach Europa belegen; und nicht zu verges-sen die Kultplätze.

J.B.: Im Video bist du in eindrücklichen Sequenzen bei der Erforschung der Kult-plätze zu sehen.

K.H.: Der Film vermittelt ziemlich genau die Eindrücke, die ich bei der Erforschung der Kultplätze hatte. Diese dienten ja den Schamanen für zahlreiche kultische Handlungen, vor allem aber dazu, das Geheimnis der fehlenden Mitte zu ergründen. Bei der Umrun-dung der Kultplätze kam ich dem tranceartigen Zustand sehr nahe, in den sich die Scha-manen bei der Suche nach der fehlenden Mitte versetzt haben.

J.B.: Die Erfindung der Straßen durch die Khuza ist ja eine sensationelle Entdeckung. Hatten die Khuza bereits einen ähnlichen Mobilitätsbegriff wie wir?

K.H.: Ganz im Gegenteil. Die Straße hatte, zumindest in der Anfangszeit der Khuza-Kultur, kultischen Charakter. Die Khuza verehrten die parallelen Linien und daraus entwickelten sie die Straße; denn eine Straße ist nichts anderes als ein Areal zwischen zwei parallelen Linien, auf dem man sich gefahrlos bewegen kann - zumindest zur Zeit der Khuza, ohne Richtung und Ziel aus den Augen zu verlieren. Eine Straße definiert den Weg von A nach B, ohne daß man sich jedesmal aufs neue Gedanken machen müßte, wie man die Strecke zwischen den beiden Punkten am ökonomischsten zurücklegt. Das ist gerade in der meist schneebedeckten Landschaft Sibiriens wichtig. Unser heutiger Mobilitätsbegriff widerspricht dem Charakter der Khuza, die eher darauf aus waren, daß alles so bleibt wie es ist. Veränderungen jeder Art waren ihnen ein Greuel. Davon läßt sich auch der von ihnen gepflegte Beschwerdekult ableiten, denn das Leben ist nun einmal ohne Ver-änderung nicht denkbar.

J.B.: Die zentrale Bedeutung des Beschwerdekults kommt auch in dem großen Be-schwerdestein zum Ausdruck, den du in der Ringsiedlung bei der Elga-Bucht entdeckt hast.

K.H.: Und ein besonders schönes Exemplar einer Beschwerdefigur, die der Beschwerde im privaten Bereich diente, befindet sich ja in unserer Sammlung von Fund-stücken, die übrigens durch dein Objekt kongenial präsentiert werden. Deine Arbeit und der dahinter steckende künstlerische Ansatz waren für mich eine große Entdeckung. Du sprichst davon, daß deine Objekte als Hardware für die Software, in diesem Falle die Fundstücke meiner Khuza-Forschung dienen. Was hat es damit auf sich?

J.B.: Die Begriffe “Hardware" und “Software sind der Mediensprache entliehen und ste-hen für die Verknüpfung kooperativer Projekte, wie auch für die Bemühun-gen, neue Strategien und Konzepte zu entwickeln.

K.H.: Um welche Strategien und Konzepte handelt es sich?

J.B.: Dazu möchte ich erstmal einige grundlegende Überlegungen voranstellen, um meinen Ansatz zu verdeutlichen. Ausgehend von der Überlegung, daß heutzutage einzelne Kunstwerke von architektonischer Umgebung oder übergreifenden Thematiken und Inszenierungen dominiert werden und dabei im schlimmsten Fall bis zur Beliebigkeit verkommen, muß man feststellen, daß die herkömmliche Art der Ausstellung für heutige aktuelle Kunst als überholt gelten kann. Dazu kommt au-ßerdem, und das ist sicherlich kennzeichnend für die allgemeine Situation, daß trotz neuer Inhalte und Strategien innerhalb der Kunst weiterhin traditionelle Ausstellungsformen praktiziert und keine anderen Ausstellungskonzepte neu entwickelt werden.

K.H.: Welchen Ausweg gibt es aus diesem Dilemma?

J.B.: Die Produktionsbedingungen für Kunst müssen neu überdacht werden. Aus-stellungskonzeptionen müssen in der Art weiterentwickelt werden, daß sie sich mehr um die Kommunikation zwischen den Kunstwerken kümmern. Das betrifft in erster Linie die Produzenten und heißt auch, je besser die Künstler miteinander kommunizieren, je besser sie sich aufeinander einstellen, auf die jeweils spezifischen Kommunikationsbedingun-gen und sich auf die situativen Gegebenheiten beziehen, umso kommunikativer wird die Ausstellung.

K.H.: Kannst du Beispiele dafür nennen?

J.B.: Eine ideale Form der Kooperation ist ja bei der Heidelberger Khuza-Ausstellung in dem Sinne gegeben, daß sich sehr viele Schnittpunkte zwischen den autonomen Arbeiten herauskristallisiert haben. Bei vielen meiner bisherigen Projekte, wie z.B. “Rot in Position", "Modul Freiburg - Dialog Boxes" oder "Rudern für Liebhaber", liegt der Versuch zugrunde, Kommunikationsprozesse zu entwickeln, zu thematisieren und somit neue Ausstellungssituationen zu schaffen.

K.H.: Heißt das, du entwickelst ein Objekt und danach stößt du auf die Arbeit eines Kollegen, mit der das Objekt bespielt wird? Oder entwickelst du auch Objekte, die spezifisch auf eine bestimmte Arbeit hin zugeschnitten sind?

J.B.: Alle Projekte sind so konzipiert, daß einzelne sogenannte Module zu einan-der in Beziehung gesetzt werden und sinnvoll angeordnet den kunstinternen Kontext bilden. Die Module sind so konstruiert und ihre Bauweise ist derart entwickelt, daß sie auf situative Gegebenheiten wie die Raumarchitektur, die Ausstellungssi-tuation etc. verweisen. Sie bilden die "Hardware" und schaffen die Voraussetzung für die spezifische "Software". Die "Software", Benutzeroberflächen anbietend, sind zum einen eigens dafür von mir geschaffene Programme, zum anderen autonome Programme anderer kooperierender Künstler. Nicht zu vergessen die Rolle des Publikums, das zum "User" (Benutzer) wird.

K.H.: Wie wird das Publikum zum Mitspieler?

J.B.: Bei "Rudern für Liebhaber" zum Beispiel heben Lichtkästen, sowie eine Art begehbares Labyrinth aus Stahlgerüsten, die mit grünen Schultafeln und drehba-ren Rahmenelementen bestückt sind, die gängige Vorstellung einer statischen Bil-derschau auf. Der User bewegt sich durch das Labyrinth und hat die Möglichkeit, in die Präsentation einzugreifen, indem er die Rahmenelemente nach seinen Wün-schen und Vorstellungen einrichtet. "Dialog-Boxes" ist ein Instrumentarium, das für bestimmte kommunikative Handlun-gen geeignet ist. Bei den Fundus-, Tisch-, Stuhl- und Bildobjekten handelt es sich um flexible Elemente, die von den Usern mit wechselnden Text-, Bild- und Handlungsprogrammen bespielt werden können. Die Eignung und die damit verbundene Nutzung der Objekte sind je nach Raum- und Handlungssituation variabel.

K.H.: In unserem Fall schaffst du eine irritierende Situation, indem sich dein Modul zwischen autonomem Objekt und Gebrauchsgegenstand als Vitrine bewegt. Bist du nicht schon auf das Mißverständnis gestoßen, daß die "User" deine Arbeit nicht als autonom wahrnehmen, weil sie ausschließlich ihre Gebrauchsfunktion sehen?

J.B.: Permanent! Erstaunlicherweise haben die Produzenten damit größere Schwierigkeiten als der Ausstellungsbesucher, der zwangsläufig als User in meine Projekte integriert wird.

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