Kapitel II

Siedlungsstruktur

Die Überreste menschlicher Bautätigkeit, unsere ersten Funde, die auf die Khuza-Kultur hinwiesen, beleuchten die Siedlungsstruktur der Khuza. Auffallend ist die stets wiederkehrende runde Anlage der Mauern im Siedlungsbereich. Handelt es sich um die Reste von Häusern? Wenn ja, wie sahen sie aus?

Betrachten wir zunächst die archäologischen und ethnologischen Forschungserkenntnisse. Seit dem Neolithikum können wir verschiedene Lebensformen des sibirischen Menschen unterscheiden. Die nomadisierenden Jäger und Sammler, die den Schneeschuh und das mit Fellen und Rinden bedeckte leichte Nomadenzelt erfanden. Die halbnomadisierenden Hirten, deren Wanderungsbewegung von der Frage bestimmt war, wo die besten Weideplätze für das Vieh zu finden seien. Und schließlich die seßhaften Stämme des Amurgebietes, die sich vor allem dort niederließen, wo die Erde eine landwirtschaftliche Nutzung der Böden zuließ. All diese Lebensformen existierten und existieren noch heute nebeneinander. Die flexible Anpassung an die wechselnden klimatischen und geografischen Gegebenheiten ist ein besonderes Merkmal der sibirischen Kulturen. Nun ist auf Olkhon an Landwirtschaft nicht zu denken. Der Boden ist felsig oder, an den Ufern des Baikal, sandig. Doch gerade der Baikal bot mit seinem ungeheuren Fischreichtum eine unerschöpfliche Nahrungsquelle und damit beste Voraussetzungen für Seßhaftigkeit. Die Insel Olkhon gab den Khuza den nötigen Schutz vor feindlichen Übergriffen. Auf ihr konnte sich ihre Kultur in aller Ruhe entwickeln.

Der Grundtypus der Behausung in Sibirien ist die Jurte, ein Rundzelt. In der Mongolei konnte ich sie 1992 in Augenschein nehmen. Dort leben die seßhaften Viehhirten in Zelthäusern, die inzwischen sogar über Stromanschluß verfügen. Die Jurten, die ich besuchte, bestanden aus kreisförmigen Bodenkonstruktionen aus Holzdielen. Sie haben einen Durchmesser von 6 bis 8 Metern. Das Grundgerüst der runden Außenwand bildet ein Scherengitter aus Holzleisten, das ebenso wie das Dach mit Filz- und Zeltbahnen bespannt ist und selbst stärksten Temperaturschwankungen trotzt. Das flache, kegelförmige Dach wird von einem strahlenförmigen Holzgerüst getragen. Eine runde Öffnung in seiner Mitte dient als Rauchabzug. Eine Holztür führt in den nicht unterteilten Innenraum, der bis zu vier Generationen einer Familie beherbergt. In der Mitte steht der Ofen, auf dem gekocht wird und der im Winter das Zeltinnere heizt. Die Schlafplätze und das spärliche Mobiliar sind rings herum an der Außenwand aufgereiht.

Kein Zweifel, auch die Khuza bewohnten ähnliche Rundhäuser. Die Ringmauern auf Olkhon sind also keine Hausfundamente. Sie dienten vielmehr als Schutz vor den böigen, bisweilen sehr stürmischen Winden des Baikal und grenzten das Familienareal ab. Nun erklärt die funktionale Betrachtungsweise aber nicht ausreichend die überall wiederkehrende Rundform, zumal die Erdwohnungen der ersten nachgewiesenen Siedlungen am Amur quadratischen Grundriß haben. Die Rundform ist vom Ring abgeleitet, der die Grundlage des Khuza-Weltbildes darstellt.(1)

Für die gerade Mauer über der Bucht von Sebete ist eine Erklärung am plausibelsten, die sich an unseren Forschungsergebnissen orientiert. Hinter der Mauer liegt ein vorspringendes Klippenplateau, das die Bucht abschließt. Von einem exponierten Punkt über der Klippe, einem kleinen Hügelchen, hat man einen phantastischen Ausblick auf den Baikal. Sowohl die Topographie, als auch die Funde lassen vermuten, daß es sich hier um das "Kap S. Vicente" der Khuza handelt. Wie in der Seefahrerschule Heinrich des Seefahrers am südöstlichsten Punkt Portugals, so stellten die Khuza auf "Kap Sebete" ihre navigatorischen und meteorologischen Untersuchungen an. Dies belegen auch einige sensationelle Funde, die ich an dieser Stelle machte: das Fragment eines Kompaßgehäuses und eine Kompaßnadel aus Stein, sowie Taschen- und Handatlanten aus Metall. Die runden Taschenatlanten haben einen Durchmesser von 29 Millimetern, der Handatlas von 83 Millimetern. In ihrer Mitte finden wir einen eingravierten Ring. Der Atlas diente zur Orientierung, zur Navigation und möglicherweise zum Erdkundeunterricht. Bei zwei Exemplaren erkennen wir eingravierte Zeichen, bei denen es sich um Gebrauchsmarkierungen handeln mag, die, wenn man sie auf dem Kopf stehend betrachtet, an arabische Ziffern erinnern. Muß somit die Geschichte der Schrift neu geschrieben werden?

In dem Areal zwischen Klippe und Mauer erwartete mich die nächste Überraschung. Obwohl der Boden mit Steinbrocken übersät ist, eine Folge des Vandalismus von Grabräubern, sind die typischen Ringgräber der Khuza deutlich zu erkennen. Navigation und Totenkult waren an einem Ort vereint, zwischen Seefahrt und Seelenwanderung sahen die Khuza offensichtlich einen Zusammenhang. Die Mauer bildete die Grenze zwischen dem kultischen und dem Siedlungsbereich.

Anmerkungen
1 vgl. Kapitel IV "Weltbild und Religion".

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