Kapitel I

Reise ins Khuza-Land

Am 17. Juli 1995 erreichten wir die Insel Olkhon. Dreieinhalb Tage dauerte die Anreise mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Irkutsk. Von dort ging es in fünf Stunden mit dem Schiff "Raketa" über die Angara und den Baikalsee bis Sazyurta, dem letzten Ort auf dem Festland vor Olkhon. Mit der einzigen Fähre an diesem Ende der Welt setzten wir über und betraten das "Khuza-Land".

Die Bucht, in der wir anlandeten, ist eingerahmt von steilen Klippen und Hügeln. Eine Schotterpiste schlängelt sich in die karge, baumlose Landschaft. Auf einer Anhöhe stehen ungefähr fünfzig kleine, bis zu einem Meter hoch aufgeschichtete Steintürmchen. Es handelt sich um einen heiligen Ort des Schamanismus. Wer einen Stein auf diesen Hügel trägt und ihn dort auf eines der Türmchen legt, der kann so sein Gewissen reinigen, wobei die Größe des Steines mit der Schwere der seelischen Belastung korreliert. Am Ufer fand ich ein handliches Steinchen und machte mich damit auf den Weg nach oben.

Unser Camp, das aus ausgemusterten russischen Militärzelten bestand, lag etwa zwanzig Kilometer von der Anlegestelle entfernt in der Bucht von Sebete. Diesen Ort hatten wir gewählt, weil sich dort der Rest einer neolithischen Steinmauer von der Bucht bis auf den Kamm der Klippen zieht. Es war das erste Zeugnis der Khuza-Kultur, auf das wir stießen. Die Mauer ist schnurgerade ausgerichtet. Am besten ist sie aus einiger Entfernung zu erkennen, wenn sie sich deutlich gegen die topografischen Strukturen der Landschaft abhebt. Steht man neben ihr, erreicht dieser sich über fast 200 Meter hinziehende, 2 bis 3 Meter breite Steinhaufen kaum eine Höhe von 50 Zentimetern und man käme niemals auf den Gedanken, es mit den Spuren menschlicher Zivilisation zu tun zu haben.

Dieses Beispiel zeigt ein wesentliches Merkmal der suggestofiktiven Methode, die ich bei meiner Forschungsarbeit anwende. Das Erkennen der Strukturen, die auf menschliche Eingriffe in der Landschaft zurückgehen, erfordert eine gewisse Distanz. Stark verfallene, verwitterte und von späteren Generationen geschleifte Mauerreste der Frühzeit unterscheiden sich auf den ersten Blick kaum von der natürlichen Umgebung. Erst wenn wir aus einiger Entfernung einen Landschaftsausschnitt im Zusammenhang erfassen können, treten die zivilisatorischen Spuren klar zu Tage. Wissen ist eine Frage des Erkennens. Die selektive Wahrnehmung, die sich auf der Basis unserer Vorstellungskraft entwickelt und entfaltet, gibt den Blick auf die Geschichte der Landschaft frei.

Bereits am nächsten Tag stieß ich auf weitere Überreste der Khuza-Kultur. Auf meinem ersten Erkundungsgang nach Nordosten zur nächsten Bucht Elga, die zwei Kilometer von Sebete entfernt ist, mußte ich drei sanfte Hügelzüge überwinden. Kaum hatte ich die erste Höhe erreicht, sah ich auf dem gegenüberliegenden Abhang fünf ringförmige Mauerfundamente, die jeweils eine kreisförmige Fläche von ungefähr zwanzig Metern Durchmesser umschlossen. Es handelte sich um Teile einer ehemaligen Khuza-Siedlung, die sich bis zur letzten Höhe über Elga hinzog, also über mehr als einen Kilometer.

Mein Weg dorthin führte über mehrere Areale, die fugenlos mit Steinplatten belegt sind. Diese befestigten Flächen werden in bestimmten Abständen von kleinen Mäuerchen aus aufeinandergeschichteten Steinen begrenzt. Von einem erhöhten Standpunkt aus erkannte ich, daß immer zwei dieser Mäuerchen in völlig gleichem Abstand die Landschaft durchziehen. Sie bilden parallele Linien. Die Flächen zwischen ihnen sind völlig plan und nur von Graswuchs durchbrochen. Es kann keinen Zweifel geben, daß ich mich auf den ersten, von Menschen gebauten Straßen bewegte. Bei den Mäuerchen handelt es sich um die Randbefestigungen der Khuza-Straßen.

Von der Anhöhe Elga bietet sich ein phantastischer Blick. Unten liegt die halbrunde Elgabucht, die sich zum Baikal hin öffnet. Dahinter im Westen das schroffe, bewaldete Ufer des sibirischen Festlands. Im Südwesten liegt Sebete, im Nordosten beginnen die ersten baumbestandenen Hügel der Insel. Elga ist ein unter strategischen Gesichtspunkten hervorragend gewählter Standort. In der Mitte der westlichen Küstenlinie Olkhons gelegen, beherrscht man von dort die beiden größten und geschütztesten, halbkreisförmigen Buchten der Insel, die den Khuza als Hafen dienten. Von dort stachen sie in See, hier landeten sie ihre Jagdbeute und Handelsgüter an.

Auf dem Hügelplateau liegen die Ruinen einer ausgedehnten Khuza-Siedlung. Steinhaufen und Mauerreste markieren auf einer Fläche von 60.000 Quadratmetern ringförmige Einfriedungen und Wege. Straßen und Verbindungswege zeichnen sich ebenso ab, wie die Reste einer die Siedlung ringförmig umgebenden Stadtmauer. All diese steinernen Zeugnisse fügen sich zu Kreisflächen umschließenden Ringen.

Auf der nordöstlichen, der Elgabucht zugewandten Seite, ist die Stadtmauer am besten erhalten. Von einem Durchbruch auf dem höchsten Punkt des Plateaurandes, der den Hauptzugang zur Siedlung markiert, führen die Überreste einer geschwungenen Straße zur Bucht hinunter. Rechts von ihr liegt ein kreisförmiger Platz in der Ebene, der sich durch dunkleren Grasbewuchs von seiner Umgebung abhebt: ein Khuza-Kultplatz. Einen zweiten sollte ich einige Tage später in der Nähe unseres Camps entdecken.

Vom Hauptzugang setzt sich der Weg innerhalb des Siedlungsareals fort und schlängelt sich um die Ruinen der Ringmauern. Zehn bis fünfzehn von ihnen sind gut erhalten, am besten jene entlang des zentralen Weges, der Hauptstraße. Sie umfrieden jeweils eine fast identische Kreisfläche von gut zwanzig Metern Durchmesser. Das am besten erhaltene Stück einer solchen Ringmauer ist über einen Meter hoch, zehn Meter lang und einen Meter stark.

Vier Tage verbrachte ich auf dem Elga-Plateau. Es war eines von drei Prospektionsfeldern, die ich im Verlauf meines Aufenthaltes untersuchen konnte: Elga, Sebete I in der unmittelbaren Umgebung unseres Camps und südlich davon Sebete II mit dem zweiten Kultplatz. Die Zeit reichte kaum, um die Spuren der Khuza-Kultur wenigstens in groben Zügen aufzuzeichnen und zu vermessen. Jeder Tag brachte weitere, bedeutsame Entdeckungen. Jeder Schritt stieß die Tür ein wenig weiter auf, hinter der sich die Geheimnisse um die Kultur der Khuza verbargen.

In der Elga-Siedlung und im Bereich Sebete sammelte ich zahlreiche Fundstücke. Am Ende meines Aufenthaltes auf Olkhon hatte ich über fünfzig fragmentarisch oder vollständig erhaltene Gegenstände der Khuza-Kultur zusammengetragen. Die meisten sind aus Stein oder Metall gefertigt. Im Camp wurden sie vermessen und mittels der suggestofiktiven Methode in den Kontext der Khuza-Kultur eingeordnet. Ringe aus Stein und Metall, darunter drei Taschenatlanten und ein Handatlas, die die Welt der Khuza darstellen. Verschieden große Ring- und Lochscheibenfragmente aus Stein. Steinspitzen, zum täglichen Gebrauch als Jagdwaffe oder im Haushalt. Steinerne Fischplastiken und deren Fragmente, Fischköpfe und Fischschwänze. Schiffsmodelle aus Stein. Ein Taschenorakel. Eine Beschwerdefigur. Ein Steinfragment mit parallelen Linien, das Stück eines Straßenmodells. Eine runde Steinscheibe, in die zwei parallele Linien eingraviert sind. Ein Spielstein? Zu welchem Spiel? Es könnte sich auch um den Prototyp einer Münze handeln, ein neolithisches Zahlungsmittel. Mit wem handelten die Khuza welche Waren? Wie tief reichten ihre Kontakte in den umliegenden asiatischen Festlandsraum?

Die Leitfunde bilden zweifellos die Ringe und Ringfragmente, Bruchstücke von Lochscheiben. Der Ring und die Lochscheibe stellen die zentrale Erfindung der Khuza dar und sind eng verknüpft mit deren Weltbild.(1) Da Ring und Lochscheibe sowohl im täglichen Gebrauch, als auch im kultischen Bereich vielfältig genutzt werden können, trat diese neolithische Innovation von Olkhon aus ihren Siegeszug durch Asien in die Welt an. Denn der Ring und die Lochscheibe sind sowohl in der indianischen Kultur des nordamerikanischen Raumes, als auch im Vorderen Orient, in Europa und in Afrika spätestens seit dem Neolithikum flächendeckend nachweisbar.

In den kaukasischen Kulturen ist noch heute der "Mutterstein" in Gebrauch, ein Ring oder eine Lochscheibe aus Stein, die als Fruchtbarkeitssymbol dient. Trifft beim Melken der erste Milchstrahl durch das Loch im Mutterstein, dann ist ein guter Ertrag garantiert. Jeden Tag werden die Muttersteine auf eine Schnur gezogen und an einem geweihten Ort aufgehängt.

Bei Okladnikow(2) finden wir die Abbildung eines steinernen Rings neolithischen Ursprungs, der als "Keule zum Töten großer Fische" beschrieben wird, ohne daß weiter auf seine Handhabung eingegangen wird. Auch die "Netzschwimmer" gehen auf die Khuza zurück, oftmals reich verzierte hölzerne Ringe oder Lochscheiben, die an der Oberkante des Fischnetzes angebracht waren, damit dieses möglichst senkrecht im Wasser stand. An der Unterkante wurden als Pendant die "Netzsenker" als Gewicht befestigt - Lochscheiben aus Stein. Ein weiteres Gerät für den Fischfang, die Reuse, ist formalästhetisch betrachtet nichts anderes als ein auf Ringe unterschiedlichen Durchmessers gespanntes Netz.

Die ersten Münzen aus dem ostsibirischen und chinesischen Raum sind Lochscheiben. Sie wurden auf Fäden und Schnüre aufgezogen, um sie geordnet aufbewahren und transportieren zu können. Davon abgeleitet entwickelten die Khuza den "Abakus", die noch heute in Rußland gebräuchliche Rechenmaschine. Er besteht aus einem Holzgestell mit mehreren Reihen von Stangen aus Holz oder Metall, auf die Ringe unterschiedlichen Wertes aufgereiht sind. Wer den Abakus beherrscht, rechnet mit dieser Maschine keineswegs langsamer als mit einem elektrischen Taschenrechner.

Und schließlich erfüllt der Ring seit der Vorgeschichte der menschlichen Zivilisation seine sicherlich nicht unwichtigste Funktion als Kultgegenstand oder Schmuckstück. Dies belegen Abbildungen, die die Kleidung indianischer und schamanistischer Medizinmänner zeigen. Sein gehäuftes Auftreten in den Gräberfeldern und Siedlungen der Khuza ist mithin signifikant.

Anmerkungen
1 vgl. Kapitel IV "Weltbild und Religion".
2 vgl. Kapitel IV "Weltbild und Religion" Abb..

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