Kapitel III

Mauern und Straßen

Die Abgrenzung des engeren Lebensbereichs durch Mauern erfolgte kulturgeschichtlich zu dem Zeitpunkt, als der Mensch Höhlen und Felsüberhänge verließ und sich im Freien einrichtete. Da Höhlen auf Olkhon unbekannt sind, müssen die Khuza im Verlauf der Neolithisierung aus dem ostsibirischen Raum, möglicherweise dem Amur- Gebiet, eingewandert sein, wo die ältesten Zeugnisse unterirdischer Behausungen gefunden wurden.

Mauern haben im wesentlichen Schutz- und Abgrenzungsfunktionen. Doch wie steht es um jene geraden Mauern, die die Khuza scheinbar planlos und in ganz unterschiedlicher Länge in der Landschaft anlegten und die offensichtlich nicht dem Zweck dienten, Grablegungs- und Siedlungsbereich voneinander zu trennen? Handelt es sich um Teile größerer Befestigungsanlagen, sozusagen um Prototypen der Chinesischen Mauer? Was bedeutet dann aber die Überlieferung Görls, die Khuza hätten Mauern zu keinem anderen Zwecke errichtet, "als sich an ihnen zu erfreuen"? Dieser kryptischen Aussage werden wir auf den Grund gehen, wenn wir uns den Riten der Khuza zuwenden und das "Irritationsritual"(1) kennenlernen, bei dem das Errichten und Einreißen von Mauern eine wichtige Rolle spielte.

Wir können also vier Mauerformen und ihre Funktionen unterscheiden. Die Ringmauer, die die Jurte und das gesamte Siedlungsareal schützte. Die kleine Straßenrandmauer faßte die Straße ein. Die "Friedhofsmauer" grenzte die Gräber von der Siedlung ab. Und die gerade Mauer in der Landschaft diente rituellen und kultischen Zwecken.

Eine Mauer besteht aus Steinen, die zwischen zwei gedachten parallel verlaufenden Flächen aufgeschichtet sind, zweidimensional betrachtet zwischen zwei parallelen Linien. Auch die äußere und innere Kreislinie eines Ringes verlaufen parallel zueinander, und von der Seite betrachtet, wird er von parallelen Linien begrenzt. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß die Khuza parallele Linien tief verehrten. Dies läßt sich auch aus den geografischen Gegebenheiten erklären. In der fast 10 Monate des Jahres schneebedeckten sibirischen Landschaft gibt es nur eine klare Form der Orientierung: die Linie als die kürzeste und sicherste Verbindung zwischen zwei Orten. Das führte zu der vielleicht erstaunlichsten Erfindung der Khuza-Kultur: der Straße, zwei parallele Linien in der Landschaft, zwischen denen man sich sicher und gefahrlos bewegen kann - jedenfalls zur Zeit der Khuza-Kultur.

Die von uns entdeckten Überreste zeugen von einer regen Straßenbautätigkeit auf Olkhon. Die älteren Straßenfragmente verlaufen gerade, während diejenigen jüngeren Datums, wie zum Beispiel die Straße von der Elga-Siedlung zur Elga-Bucht, geschwungen ist. Hier handelt es sich um eine Art barocker, gleichzeitig aber auch degenerierter Variante aus der Zeit, als die Khuza ihren kulturellen Zenit womöglich schon überschritten hatten. Ob die Khuza den Wagen kannten, ist nicht belegt; daß sie die Straße auch als Handelsweg nutzten, ist sicher. In dieser Gegend Sibiriens gelten sie noch heute als die Erfinder der Seidenstraße. Und sie besaßen das Monopol auf ein Handelsprodukt, das sie zum wichtigsten Energielieferanten Sibiriens machte: Golominka. Der Golominka oder Ölfisch besteht zu 99% aus Fett und kann so dem Wasserdruck in über 1.000 Metern Tiefe widerstehen. Allerdings schmilzt er in der Sonne in weniger als 30 Minuten. Das Weibchen stirbt, nachdem es bis zu 2.000 lebende Fische geboren hat. Der Golominka war in der Vor- und Frühgeschichte neben dem Holz der wichtigste Energielieferant der Region. Sein Fett wurde in Öllampen, zum Kochen und Heizen verwendet. Die Khuza beherrschten diese Energiequelle konkurrenzlos, bis sie den Golominka durch Überfischung fast ausgerottet hatten. Heute hat sich sein Bestand wieder erholt. Die Khuza beuteten ihr wichtigstes Handelsgut, durch das sie zu Wohlstand und hoher kultureller Entwicklung gelangten, bis zur Neige aus. Ihrer wirtschaftlichen Grundlage beraubt, verließen sie Olkhon und schlossen sich im 12. Jahrhundert den Mongolenzügen nach Westen an.

Anmerkungen
1 vgl. Kapitel V "Ritus und Kultus".

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