Hans Gercke, Direktor des Heidelberger Kunstvereins

Das Rätsel der Khuza

Fragmentarische Bemerkungen zu den Forschungen von Klaus Heid

Wall, Kreis, Ring, Straße: Wir finden sie auf Olkhon und anderswo. Wo aber liegt das Spezifische? Welche Erkenntnis bringt uns die Khuza-Forschung?

Die Wissenschaft mißt, zählt, vergleicht, katalogisiert, kategorisiert, ist um Objektivität bemüht. Doch kann es eine solche je geben? Können wir jemals wissen, wie Menschen vergangener Kulturen wirklich gelebt, was sie gedacht und empfunden haben? Die berühmte "Subjekt-Objekt-Spaltung" können wir nicht überwinden, weder in der Gegenwart, noch gar im Blick auf zeitliche Distanzen. Immer wieder sind wir es, die hinschauen, die die Fragen stellen. Durch unsere Optik blicken wir auf die Rätsel der Welt. Wir bestimmen Perspektive und Ausschnitt, zugleich aber ist es uns unmöglich, uns völlig "hineinzuversetzen" in das Objekt unseres Interesses.

Die Methoden der Kunst, der ästhetischen Recherche sind so verschieden nicht von den Methoden der Wissenschaft. Hier wie dort tritt "objektive" Wirklichkeit in das Blickfeld eines fragenden Subjekts, begegnet Intuition der Realität, berühren sich Innen und Außen. Um Welterkenntnis geht es dabei allemal, und destilliert und filtriert, synthetisiert und konzentriert wird auch in der Kunst. Doch ist sie nicht an den trockenen Präparaten meßbarer Ergebnisse interessiert, sondern an Erfahrung und Erlebbarkeit.

Wo die Wissenschaft passen muß, eröffnet die Kunst neue Räume der Erkenntnis. "Kunst und Wissenschaft", dieses häufig gebrauchte Begriffspaar, kann ebenso als Gegensatz, wie als Parallele und Ergänzung verstanden werden. Wenn es gelegentlich zur Trias "Kunst, Wissenschaft und Technik" erweitert wird, so belegt dies nur das Auseinanderdriften ursprünglich zusammengehörender Verfahrensweisen. Die Copula "und" jedenfalls steht für Kontrast und Kommunikation, kann als Zeichen für Alternative oder Affinität gelesen werden. Was früheren Epochen selbstverständlich war - man denke an Leonardo - ist in jüngster Zeit, spätestens seit der "Spurensicherung" erneut aktuell geworden. Künstler forschen und sie entwickeln dabei Methoden, die in der Lage sind, die der Wissenschaft zwar nicht zu ersetzen, wohl aber zu ergänzen - und übrigens dabei auch zu hinterfragen.

Zu seiner "suggestofiktiven Methode" erläutert Klaus Heid im Gespräch mit Jörg Brombacher: " Indem die Naturwissenschaft eine - meiner Meinung nach künstliche - Trennung zwischen ästhetischer und analytischer Erkenntnisfähigkeit postuliert, beschneidet sie sich selbst und macht sich und den Menschen etwas vor. Wissenschaftliche Methoden suggerieren zwar Objektivität, zumindest die Interpretation ihrer Ergebnisse läßt jedoch ein weites Feld für Spekulation, Suggestion und Fiktion zu. Darüber muß man sich im Klaren sein. Die suggestofiktive Methode funktioniert übrigens auch in der Liebe. Es handelt sich also um eine sehr umfassende Methodik und ich habe gute Gründe für die Annahme, daß sie universell anwendbar ist".(1)

Das für unsere Gegenwart so bezeichnende Fehlen der Ganzheit, das Hans Sedlmayr in seinem vielbeachteten Buch "Verlust der Mitte" (2) überaus scharfsinnig, wenn auch mit umstrittener Wertung, analysiert hat, offenbart sich schon Jahrtausende früher als zumindest latent und potentiell immer schon vorhandene Erfahrung im Weltbild der Khuza. Es scheint, als sei es diesem Volk nicht gegeben gewesen, die Öffnung der Mitte durch eine mythische Fiktion zu schließen - ein Phänomen, das diese ferne Welt auf überraschende Weise mit unserer eigenen verbindet.

Wall, Kreis, Ring und Straße sind Konstrukte, die sehr konkreten Zwecken dienen können, aber auch elementare Zeichen jenseits "banaler" Nutzbarkeit. Sie verweisen auf makro- und mikrokosmische Zusammenhänge, nicht zuletzt aber auch auf elementare menschliche Befindlichkeiten: Sich abgrenzen, sich schützen, sich verschließen, die eigene Identität bewahren, aber auch Kontakte herstellen, Verbindungen knüpfen, sich öffnen, sich bewegen, sich auf ein Ziel hin auf den Weg machen, zur Ruhe kommen, sich auf eine Mitte ausrichten, auch wenn diese als das große Unbekannte empfunden und vielleicht gerade deswegen besonders verehrt wird - die Leere, um die ein Weg kreist, der wieder dahin zurückkehrt, wo er begann, ohne je irgendwo zu enden. In der Figur des Rings kommen Unendlichkeit und Begrenzung, Dynamik und Statik zum Einklang.

Nicht allein diese, sondern auch andere Beobachtungen belegen die Aktualität der Khuza-Forschung. Die Khuza waren in vielem "ihrer Zeit voraus". Hier sei nur an die Erfindung der Straße erinnert, aber auch an die Bedeutung, die in ihrer Wirtschaft dem Öl als Energieträger zukam. Freilich sollte auch dies im Kontext betrachtet werden: Immer wieder, zu unterschiedlichsten Zeiten und in verschiedensten Epochen, sind die Weiten Zentralasiens der Ort der Begegnung gewesen, auf den sich auffallende und faszinierende Parallelen im Repertoire der Mythen und Riten, Bilder und Symbole, Ornamente und Formfindungen verschiedener Hochkulturen zurückführen lassen. Von den bizarren Fabelwesen auf chinesischen Bronzen der Shang-Zeit spannt sich der Bogen vom Vasendekor des frühgriechischen "Orientalisierenden Stils", zur Ornamentwelt Vorderasiens und weiter zu den lombardisch-romanischen Tierfriesen und den gotischen Wasserspeiern.

Klaus Heid erzählt uns eine spannende Geschichte, bezieht neben den Fundobjekten prachtvolle Fotos und reflektierende und kommentierende Zeichungen mit ein, ergänzt durch Film, Texte und Vorträge - all dies je für sich schon sehens- und hörenswert, darüber hinaus aber Bestandteil eines komplexen, multimedialen und verschiedenste Fachbereiche übergreifenden Ganzen. Im Spiegel der Khuza-Forschung aber, im Spiegel der Kunst, begegnen wir uns selbst.

Die Khuza-Kultur findet in den gängigen Lexika noch keine Erwähnung. Auch über Kuza ist nichts vermerkt, erst bei Cuza werde ich fündig. Cuza, Alexander Johann I., so verrät mir das Lexikon, wurde am 20.3.1820 in Husi geboren und stammte aus einer edlen Bojarenfamilie. 1859 wurde er zum Fürsten der Moldau und der Walachei ausgerufen. 1862 vereinigte er beide Fürstentümer, hob die Leibeigenschaft auf und führte 1864 die erste rumänische Bodenreform durch. 1866 wurde er gestürzt und starb am 15.5. im Exil zu Heidelberg. Hier gibt es eine Straße, die nach dem Gründer des modernen Rumänien benannt ist: Sie heißt - seltsames Zusammentreffen - "Cuza-Ring".

Hans Gercke, Direktor des Heidelberger Kunstvereins

Anmerkungen
1 Gespräch zwischen Klaus Heid und Jörg Brombacher über die Khuza-Kultur
  und über die Arbeitsansätze. In: "gegenwärts" 2/97. Heidelberg. 1997. -
  Von Jörg Brombacher stammt übrigens die "Hardware" zur Heidelberger Ausstellung,
  ein skulpturales Vitrinensystem, das Heid im Sinne einer Künstler-Kooperation zur
  Präsentation seiner Khuza-Funde benutzt.

2 Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte, 1947 (Neudruck Ullstein Buch Nr. 39, 1977)

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