Christoph Bauer M.A. Leiter des Städtischen Kunstmuseums Singen

Das große Abstrakte

Die Kunstwissenschaft tut sich schwer, soll sie Aussagen über Objekte treffen, die augenscheinlich den Bereichen der Archäologie, der Vor- und Frühgeschichte oder der Volkskunst zugehören. Das Fach verbirgt sich hinter den Zäunen der eigenen, originären Bereiche, man verweist auf andere Kontexte und auf die fehlende "Zuständigkeit". Dies erstaunt umso mehr, als in der Geschichte dieser Disziplin gerade jene Geistesgrößen das Fach erweiterten, die Grenzen zu überschreiten wagten, und sich die Kunstwissenschaft gerade im 20. Jahrhundert stets mit Künstlerpersönlichkeiten und -gruppen auseinandersetzt(e), die klassische Gattungseinschränkungen und Wahrnehmungsmuster abgelehnt, erweitert und überwunden haben.

Tatsächlich stellt sich, betrachtet man die Objekte der Khuza-Kultur, die Klaus Heid von seiner Expedition mitbrachte, jenes ästhetische Urerlebnis ein, wie es auch Wassily Kandinsky in der emphatischen Sprache des geistig-künstlerischen Aufbruchs um 1900 bei der Entdeckung von Werken der Volkskunst verspürte: "Wenn [der Betrachter] imstande ist, sich seiner Wünsche, seiner Gedanken, seiner Gefühle zeitweise zu entledigen, ... so wird seine Seele viele Vibrationen erleben und in das Gebiet der Kunst eintreten. Hier wird er dann nicht ihn empörende Mängel und ärgernde Fehler finden, sondern er wird statt einem Minus ein Plus seelisch erreichen".(1) Es scheint mir nicht ungewöhnlich, wenn wir über jenes teilhabende Verhalten, das künstlerisch gestaltete Objekte auszulösen vermögen, neu reflektieren, zumal es heute wieder darum geht, die gesellschaftliche Bedeutung des Künstlerischen in der Nachmoderne zu rechtfertigen.

Das Eindrücklichste an diesen vermeintlich primitiven Gegenständen ist die Verdichtung der für uns mythischen Inhalte, jene "große Abstraktion"(2) , die Kandinsky als ein Merkmal des Gestaltschaffens sowohl alter, einer Tradition verpflichteter Kulturen, wie des gemeinen Mannes im Volk erkannt hat. Tatsächlich ist das Bestreben der Khuza auffällig, die innere und äußere Wirklichkeit der zentralen Gehalte ihrer Mythologie prägnant, ohne alles Gekünstelte und auf das Wesentliche konzentriert in zeichenhaften Formen darzustellen: der Ring ist Sinnbild ihrer Weltanschauung, der Kreis verweist auf die (verlorene) Mitte, parallele Linien bezeugen die Suche nach Verbindungen usw.

Dieses über die Anschauung vergewisserbare, zeichenhafte Bilden zeigt an, daß es in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte die heute manifeste Kluft zwischen dem Gebrauchsgegenstand einerseits und dem Kunstwerk andererseits nicht gab. Vielmehr scheint es zuerst ein in langandauernde Traditionen und Mentalitäten eingebundenes Gegenstandsbewußtsein gegeben zu haben. Allem Anschein nach gab es im Zeichen ein Zusammenfallen zwischen Bezeichnetem und gestalteter Form, so daß eine Trennung zwischen Leben und Kunst erst gar nicht aufkommen konnte. Kandinsky hat das uns heute als Paradoxie erscheinende In-eins-Fallen des Abstrakten und des Realen in zwei Kernsätzen verdeutlicht: "Das zum Minimum gebrachte "Künstlerische" muß hier als das am stärksten wirkende Abstrakte erkannt werden" und: "Das zum Minimum gebrachte "Gegenständliche" muß in der Abstraktion als das am stärksten wirkende Reale erkannt werden."(3)

Gegen eine solche Position wird eingewendet, daß sie, indem sie die Faktizität des untersuchten Objekts zum modernen Betrachter hin verschiebe, unhistorisch, methodisch unscharf, ja raunend sei. Wohl ist richtig, daß der Kunstcharakter nicht Ausgang und Zweck der Entstehung dieser Objekte war. Es ist aber einzuwenden, daß auch die Khuza-Funde ihrem Wesen nach zuerst durch die Formbetrachtung und -untersuchung erfahrbar sind. Diese konstituierende ästhetische Erfahrung bildet den Ausgang jedes weitergehenden Interesses und führt zugleich zur Frage nach den Grundlagen menschlicher Gestaltung zurück. Die Erweiterung des Kunstbegriffes seit der Umbruchzeit um 1900 bis in die heutige Zeit erlaubt es, jenseits vorherrschender Funktionsanalysen diese Form- und Strukturuntersuchungen breit, d.h. nicht nur mit den Begriffen einer an der Hochkunst orientierten, normativen Ästhetik zu leisten. Auch dürfen wir davon ausgehen, daß die Einverleibung der Objekte in den Gebrauch der Khuza auch ein Votum dafür ist, daß diesen in deren Augen Schönheit, Angemessenheit, Gestaltung und Geschick eignete.

Wir haben bereits festgestellt, daß das Gestaltschaffen der Khuza durch eine besondere Eindringlichkeit der Grundformen gekennzeichnet ist, die zu einem ganz eigenen, unmittelbaren Ausdruck führt. Diese typologische Bestimmung sucht im Gegensatz zu kontextuellen Funktionsanalysen das Wesen der Funde aus zentralen Merkmalen zu bestimmen. Der Begriff des Gestaltschaffens verweist dabei auf den aristotelischen Begriff des Bildens, der den Gestaltungsvorgang eines Kunstwerkes von bloßen äußeren Zwecken scheidet, wie sie für das reine Werkzeug bestimmend sind. Dieses "Mehr" ist auch dann gültig, wenn, wie bei Objekten der Khuza-Kultur überwiegend, der Kunstcharakter an eine nützliche Gerätschaft, etwa einen Atlas, ein Taschenorakel oder eine Beschwerdefigur geknüpft ist, die die Form grundlegt. Der praktische Nutzen klärt aber allein die Zweckform, nicht aber das sichtbare Bemühen um weiterreichende Gestaltung, Gefallen und Schönheit.

Diesem Willen zur Form und der Grundfähigkeit auch des frühen Menschen zur Gestaltung kommt ein Wert an sich bei, da sowohl vom Schöpfer, vom damaligen "Besitzer" und auch vom heutigen Betrachter die ganze Persönlichkeit gefordert wird, will er das Objekt "erwerben". Auch bei den Khuza war das bildnerische Gestalten eine Form der Weltbewältigung. In der Form gestaltete dieses frühgeschichtliche Volk seine Erfahrungen und vergewisserte sich dieser. Die uns überlieferten Werke sind Verweise auf jenen kulturellen Raum, in dem die Khuza anderen und sich selbst begegnen konnten. Denn die Erzeugung von Welten, in denen sich - heute wie damals - Menschen mit glaubwürdigen Motiven aufhalten können, ist selbst eine Funktion der Gesten und Handlungen, durch die Kultplätze, religiöse Gegenstände usw. gestaltet, bevölkert bzw. genutzt werden. Kulturelle Werke sind unerlässliche Faktoren von Integration und kollektiver Identität, wodurch das "Eigene" vom "Fremden" unterscheidbar wird. Auch hierbei ist die Frage nach der Gestaltung durch die Sichtbarmachung des Unterscheidenden zentral.(4)

Wir sind Klaus Heid dafür dankbar, daß er uns solches durch seine Forschung wieder zur Anschauung gebracht hat.(5) Christoph Bauer M.A., Leiter des Städtischen Kunstmuseums Singen

Anmerkungen
1 Wassily Kandinsky: Über die Formfrage. In: Der Blaue Reiter. München 1912, S.99.
2 Wassily Kandinsky: Über die Formfrage. In: Der Blaue Reiter. München 1912, S.82.
3 Wassily Kandinsky: Über die Formfrage. In: Der Blaue Reiter. München 1912, S.84.
4 s. hierzu: Peter Sloterdijk: Zur Welt kommen - zur Sprache kommen. Frankfurt 1988.
5 Das Städtische Kunstmuseum Singen zeigte die Ausstellung
  "KHUZA. Ein Mythos aus Sibirien" vom 14.05.-21.07.1996.

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